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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Sanfte, edle, treue, zärtliche Charakter.

Erst, die ganze Gestalt des Jünglings! wie wär' über die so viel zu sagen! wie viel
mehr als übers Gesicht! Es ist wohl kein Menschenauge, das sie nicht proportionirt, edel und
rein finden wird. -- Diese unbeschreibliche Proportion, diese gleichmäßige Mischung von Weib-
lichkeit und fester Männlichkeit! dieß Leichte und Gesetzte! diese Unschuld ohne Schwachheit!
diese Unverführbarkeit ohne Strenge, diese mitgebohrne Sicherheit in sich selbst, diese freye, na-
türliche, innere Selbstständigkeit, so hab' ich sie noch in keinem Menschen gesehen! -- Und der
innere Charakter, wie rein entsprechend der äussern Gestalt! Welche Harmonie, welche Ruhe,
welche Freyheit der Seele! welcher Muth ohne Trutz! welche Demuth ohne Aengstlichkeit!
welche Freyheit ohne blendenden Glanz! welche jedem Geschlechte, allen Zungen und Menschen
sich empfehlende, ohne alles Gesuch sich einschmeichelnde Liebenswürdigkeit! --

Diese reine Flachheit, ich sage nicht Plattheit, der runzellosen, hohen, offnen, heitern,
gedächtnißreichen Stirn, die keines schiefen, dunkeln Gedanken, keines verworrenen Blickes fä-
hig ist; diese jungfräuliche Nase, dieses Auge ohne alle Prätension, durch Krankheit blöde, (sey's
Warnung dem Physiognomisten, den Menschen nicht zu schnell, und nicht allein aus dem Au-
ge zu beurtheilen!) diese sanftlächelnden, bestimmt gezeichneten Lippen, dieß wenig zurückgehende,
zarte, einfache Kinn, diese einfache Wölbung der Backen, diese Plattheit oben auf dem Schä-
del, diese vom Haare bedeckte Gewölbtheit des Hinterhaupts, diese hervorstechende scharfe Fühl-
barkeit des ... Knochen -- diese sich übers Ganze verbreitende, alles zusammen fassende
Einfachheit -- alles dieses, wie zusammenstimmend, die jungfräuliche Empfänglichkeit des un-
schöpferischen Charakters zu bezeichnen! -- zu bezeichnen die von Falschheit, Tücke, Schlauig-
keit, Kleinheit, Anmaßung, Ehrgeiz -- so entfernte reine, zartfühlende Engelsseele; das durch
keinen Adel, keinen Reichthum, und keinen Mißbrauch des Reichthums verunedelte, durch
das feinste Liebesgefühl nicht zwar durchglühte, aber immer gleich warme Treue; die durch keine
Vorurtheile beschränkte, keine Leidenschaften, keine Beyspiele, keine Welt voll Reizungen --
verführbare, durch keine Reihe von Hofmeistern steifgemodelte Seele, die immer, wie die Gestalt
des Körpers, in ihrer Aufrechtheit dasteht mit dem leichten, geschmackvollen Kleide, wie die hohe

Tanne!
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Sanfte, edle, treue, zaͤrtliche Charakter.

Erſt, die ganze Geſtalt des Juͤnglings! wie waͤr’ uͤber die ſo viel zu ſagen! wie viel
mehr als uͤbers Geſicht! Es iſt wohl kein Menſchenauge, das ſie nicht proportionirt, edel und
rein finden wird. — Dieſe unbeſchreibliche Proportion, dieſe gleichmaͤßige Miſchung von Weib-
lichkeit und feſter Maͤnnlichkeit! dieß Leichte und Geſetzte! dieſe Unſchuld ohne Schwachheit!
dieſe Unverfuͤhrbarkeit ohne Strenge, dieſe mitgebohrne Sicherheit in ſich ſelbſt, dieſe freye, na-
tuͤrliche, innere Selbſtſtaͤndigkeit, ſo hab’ ich ſie noch in keinem Menſchen geſehen! — Und der
innere Charakter, wie rein entſprechend der aͤuſſern Geſtalt! Welche Harmonie, welche Ruhe,
welche Freyheit der Seele! welcher Muth ohne Trutz! welche Demuth ohne Aengſtlichkeit!
welche Freyheit ohne blendenden Glanz! welche jedem Geſchlechte, allen Zungen und Menſchen
ſich empfehlende, ohne alles Geſuch ſich einſchmeichelnde Liebenswuͤrdigkeit! —

Dieſe reine Flachheit, ich ſage nicht Plattheit, der runzelloſen, hohen, offnen, heitern,
gedaͤchtnißreichen Stirn, die keines ſchiefen, dunkeln Gedanken, keines verworrenen Blickes faͤ-
hig iſt; dieſe jungfraͤuliche Naſe, dieſes Auge ohne alle Praͤtenſion, durch Krankheit bloͤde, (ſey’s
Warnung dem Phyſiognomiſten, den Menſchen nicht zu ſchnell, und nicht allein aus dem Au-
ge zu beurtheilen!) dieſe ſanftlaͤchelnden, beſtimmt gezeichneten Lippen, dieß wenig zuruͤckgehende,
zarte, einfache Kinn, dieſe einfache Woͤlbung der Backen, dieſe Plattheit oben auf dem Schaͤ-
del, dieſe vom Haare bedeckte Gewoͤlbtheit des Hinterhaupts, dieſe hervorſtechende ſcharfe Fuͤhl-
barkeit des ... Knochen — dieſe ſich uͤbers Ganze verbreitende, alles zuſammen faſſende
Einfachheit — alles dieſes, wie zuſammenſtimmend, die jungfraͤuliche Empfaͤnglichkeit des un-
ſchoͤpferiſchen Charakters zu bezeichnen! — zu bezeichnen die von Falſchheit, Tuͤcke, Schlauig-
keit, Kleinheit, Anmaßung, Ehrgeiz — ſo entfernte reine, zartfuͤhlende Engelsſeele; das durch
keinen Adel, keinen Reichthum, und keinen Mißbrauch des Reichthums verunedelte, durch
das feinſte Liebesgefuͤhl nicht zwar durchgluͤhte, aber immer gleich warme Treue; die durch keine
Vorurtheile beſchraͤnkte, keine Leidenſchaften, keine Beyſpiele, keine Welt voll Reizungen —
verfuͤhrbare, durch keine Reihe von Hofmeiſtern ſteifgemodelte Seele, die immer, wie die Geſtalt
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Tanne!
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[237/0399] Sanfte, edle, treue, zaͤrtliche Charakter. Erſt, die ganze Geſtalt des Juͤnglings! wie waͤr’ uͤber die ſo viel zu ſagen! wie viel mehr als uͤbers Geſicht! Es iſt wohl kein Menſchenauge, das ſie nicht proportionirt, edel und rein finden wird. — Dieſe unbeſchreibliche Proportion, dieſe gleichmaͤßige Miſchung von Weib- lichkeit und feſter Maͤnnlichkeit! dieß Leichte und Geſetzte! dieſe Unſchuld ohne Schwachheit! dieſe Unverfuͤhrbarkeit ohne Strenge, dieſe mitgebohrne Sicherheit in ſich ſelbſt, dieſe freye, na- tuͤrliche, innere Selbſtſtaͤndigkeit, ſo hab’ ich ſie noch in keinem Menſchen geſehen! — Und der innere Charakter, wie rein entſprechend der aͤuſſern Geſtalt! Welche Harmonie, welche Ruhe, welche Freyheit der Seele! welcher Muth ohne Trutz! welche Demuth ohne Aengſtlichkeit! welche Freyheit ohne blendenden Glanz! welche jedem Geſchlechte, allen Zungen und Menſchen ſich empfehlende, ohne alles Geſuch ſich einſchmeichelnde Liebenswuͤrdigkeit! — Dieſe reine Flachheit, ich ſage nicht Plattheit, der runzelloſen, hohen, offnen, heitern, gedaͤchtnißreichen Stirn, die keines ſchiefen, dunkeln Gedanken, keines verworrenen Blickes faͤ- hig iſt; dieſe jungfraͤuliche Naſe, dieſes Auge ohne alle Praͤtenſion, durch Krankheit bloͤde, (ſey’s Warnung dem Phyſiognomiſten, den Menſchen nicht zu ſchnell, und nicht allein aus dem Au- ge zu beurtheilen!) dieſe ſanftlaͤchelnden, beſtimmt gezeichneten Lippen, dieß wenig zuruͤckgehende, zarte, einfache Kinn, dieſe einfache Woͤlbung der Backen, dieſe Plattheit oben auf dem Schaͤ- del, dieſe vom Haare bedeckte Gewoͤlbtheit des Hinterhaupts, dieſe hervorſtechende ſcharfe Fuͤhl- barkeit des ... Knochen — dieſe ſich uͤbers Ganze verbreitende, alles zuſammen faſſende Einfachheit — alles dieſes, wie zuſammenſtimmend, die jungfraͤuliche Empfaͤnglichkeit des un- ſchoͤpferiſchen Charakters zu bezeichnen! — zu bezeichnen die von Falſchheit, Tuͤcke, Schlauig- keit, Kleinheit, Anmaßung, Ehrgeiz — ſo entfernte reine, zartfuͤhlende Engelsſeele; das durch keinen Adel, keinen Reichthum, und keinen Mißbrauch des Reichthums verunedelte, durch das feinſte Liebesgefuͤhl nicht zwar durchgluͤhte, aber immer gleich warme Treue; die durch keine Vorurtheile beſchraͤnkte, keine Leidenſchaften, keine Beyſpiele, keine Welt voll Reizungen — verfuͤhrbare, durch keine Reihe von Hofmeiſtern ſteifgemodelte Seele, die immer, wie die Geſtalt des Koͤrpers, in ihrer Aufrechtheit daſteht mit dem leichten, geſchmackvollen Kleide, wie die hohe Tanne! G g 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/399>, abgerufen am 22.11.2024.