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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXVIII. Fragment. Drey Künstler.
Kunstrichter, Erzieher! -- Jhr jammert immer über Kraft, die anfangs Härte gebiehrt; und
scheinet nicht zu bedenken, daß diese sich von selbst abrunden muß. Jhr preiset immer nur sanfte,
gelenksame Weichheit, und scheinet nicht zu bedenken, daß diese nie feste Mannskraft wird, daß
diese endlich in geistlose Manier ausarten muß. Mir war's (wie gesagt) angenehmes Schauspiel,
aus einem so zarten, feinen, jungfräulichen Gesichte -- diese festen Züge quillen zu sehen. Diese
Jungfräulichkeit des Gesichtes war mir für die Sanftheit und Leichtigkeit des Styls noch mehr
Bürge -- als die harte Keckheit der ersten Versuche für die Festigkeit und Bestimmtheit der
Zeichnung. Beydes zusammen geschmolzen -- und wir haben den besten Künstler, den wir uns
wünschen können.

Das Gesicht, das wir vor uns haben, kann für sehr ähnlich gelten, und ich meyne: Es
ist ein Gesicht voll Physiognomie -- Jch meyne, der Jüngling kann beobachten, und -- beob-
achtet. Jch meyne, das Aug' ist Aug. Es ergreift ohne Anstrengung sein Objekt, sieht's nach
allen seinen Theilen, und sieht's im Ganzen. Jch meyne, dieß Gesicht hat Kraft und Sanft-
heit
-- und wahrlich so viel Bonhomie und unschuldige Güte, ohne Lockerheit -- daß man's
nur ansehen darf, um es unmenschlich zu finden, ein so aufkeimendes Genie zu zertreten -- zu
zertreten? was? dieß Gesicht sollte sich bey aller seiner Sanftheit zertreten lassen? dieß Auge
sollte sich seinen hellen Blick, seine innere Schauenskraft wegneiden lassen? dieser spitzige Au-
genwinkel, diese anfangs von mir nicht bemerkte Quelle der Bestimmtheit -- sich abstümpfen
lassen? -- O Physiognomik! du Mutter der Menschenfreude und Gerechtigkeit und Liebe, wie
wirst du mir bey diesem Bilde aufs neue wichtig und heilig!

Aber in diesem Gesichte ist nicht nur Nachahmungskunst, ist originelle Schöpfungs-
kraft; -- und -- dieß ist meine zweyte -- freylich nicht bloß physiognomische Weißagung --
"Lips wird in wenigen Jahren ein zweyter Chodowiecki."

Nicht forschender, grabender -- nicht verliebter, aber schauender Charakter! schauend
mit Verstand und Liebe.

Jn

XXVIII. Fragment. Drey Kuͤnſtler.
Kunſtrichter, Erzieher! — Jhr jammert immer uͤber Kraft, die anfangs Haͤrte gebiehrt; und
ſcheinet nicht zu bedenken, daß dieſe ſich von ſelbſt abrunden muß. Jhr preiſet immer nur ſanfte,
gelenkſame Weichheit, und ſcheinet nicht zu bedenken, daß dieſe nie feſte Mannskraft wird, daß
dieſe endlich in geiſtloſe Manier ausarten muß. Mir war’s (wie geſagt) angenehmes Schauſpiel,
aus einem ſo zarten, feinen, jungfraͤulichen Geſichte — dieſe feſten Zuͤge quillen zu ſehen. Dieſe
Jungfraͤulichkeit des Geſichtes war mir fuͤr die Sanftheit und Leichtigkeit des Styls noch mehr
Buͤrge — als die harte Keckheit der erſten Verſuche fuͤr die Feſtigkeit und Beſtimmtheit der
Zeichnung. Beydes zuſammen geſchmolzen — und wir haben den beſten Kuͤnſtler, den wir uns
wuͤnſchen koͤnnen.

Das Geſicht, das wir vor uns haben, kann fuͤr ſehr aͤhnlich gelten, und ich meyne: Es
iſt ein Geſicht voll Phyſiognomie — Jch meyne, der Juͤngling kann beobachten, und — beob-
achtet. Jch meyne, das Aug’ iſt Aug. Es ergreift ohne Anſtrengung ſein Objekt, ſieht’s nach
allen ſeinen Theilen, und ſieht’s im Ganzen. Jch meyne, dieß Geſicht hat Kraft und Sanft-
heit
— und wahrlich ſo viel Bonhomie und unſchuldige Guͤte, ohne Lockerheit — daß man’s
nur anſehen darf, um es unmenſchlich zu finden, ein ſo aufkeimendes Genie zu zertreten — zu
zertreten? was? dieß Geſicht ſollte ſich bey aller ſeiner Sanftheit zertreten laſſen? dieß Auge
ſollte ſich ſeinen hellen Blick, ſeine innere Schauenskraft wegneiden laſſen? dieſer ſpitzige Au-
genwinkel, dieſe anfangs von mir nicht bemerkte Quelle der Beſtimmtheit — ſich abſtuͤmpfen
laſſen? — O Phyſiognomik! du Mutter der Menſchenfreude und Gerechtigkeit und Liebe, wie
wirſt du mir bey dieſem Bilde aufs neue wichtig und heilig!

Aber in dieſem Geſichte iſt nicht nur Nachahmungskunſt, iſt originelle Schoͤpfungs-
kraft; — und — dieß iſt meine zweyte — freylich nicht bloß phyſiognomiſche Weißagung —
Lips wird in wenigen Jahren ein zweyter Chodowiecki.

Nicht forſchender, grabender — nicht verliebter, aber ſchauender Charakter! ſchauend
mit Verſtand und Liebe.

Jn
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[223/0369] XXVIII. Fragment. Drey Kuͤnſtler. Kunſtrichter, Erzieher! — Jhr jammert immer uͤber Kraft, die anfangs Haͤrte gebiehrt; und ſcheinet nicht zu bedenken, daß dieſe ſich von ſelbſt abrunden muß. Jhr preiſet immer nur ſanfte, gelenkſame Weichheit, und ſcheinet nicht zu bedenken, daß dieſe nie feſte Mannskraft wird, daß dieſe endlich in geiſtloſe Manier ausarten muß. Mir war’s (wie geſagt) angenehmes Schauſpiel, aus einem ſo zarten, feinen, jungfraͤulichen Geſichte — dieſe feſten Zuͤge quillen zu ſehen. Dieſe Jungfraͤulichkeit des Geſichtes war mir fuͤr die Sanftheit und Leichtigkeit des Styls noch mehr Buͤrge — als die harte Keckheit der erſten Verſuche fuͤr die Feſtigkeit und Beſtimmtheit der Zeichnung. Beydes zuſammen geſchmolzen — und wir haben den beſten Kuͤnſtler, den wir uns wuͤnſchen koͤnnen. Das Geſicht, das wir vor uns haben, kann fuͤr ſehr aͤhnlich gelten, und ich meyne: Es iſt ein Geſicht voll Phyſiognomie — Jch meyne, der Juͤngling kann beobachten, und — beob- achtet. Jch meyne, das Aug’ iſt Aug. Es ergreift ohne Anſtrengung ſein Objekt, ſieht’s nach allen ſeinen Theilen, und ſieht’s im Ganzen. Jch meyne, dieß Geſicht hat Kraft und Sanft- heit — und wahrlich ſo viel Bonhomie und unſchuldige Guͤte, ohne Lockerheit — daß man’s nur anſehen darf, um es unmenſchlich zu finden, ein ſo aufkeimendes Genie zu zertreten — zu zertreten? was? dieß Geſicht ſollte ſich bey aller ſeiner Sanftheit zertreten laſſen? dieß Auge ſollte ſich ſeinen hellen Blick, ſeine innere Schauenskraft wegneiden laſſen? dieſer ſpitzige Au- genwinkel, dieſe anfangs von mir nicht bemerkte Quelle der Beſtimmtheit — ſich abſtuͤmpfen laſſen? — O Phyſiognomik! du Mutter der Menſchenfreude und Gerechtigkeit und Liebe, wie wirſt du mir bey dieſem Bilde aufs neue wichtig und heilig! Aber in dieſem Geſichte iſt nicht nur Nachahmungskunſt, iſt originelle Schoͤpfungs- kraft; — und — dieß iſt meine zweyte — freylich nicht bloß phyſiognomiſche Weißagung — „Lips wird in wenigen Jahren ein zweyter Chodowiecki.“ Nicht forſchender, grabender — nicht verliebter, aber ſchauender Charakter! ſchauend mit Verſtand und Liebe. Jn

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/369>, abgerufen am 18.05.2024.