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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXVI. Fragment. Treue, feste Charakter
an Fähigkeit des Verstandes, und Treue des Herzens gewinnen würde. Die Unbestimmtheit
des linken obern Auglieds -- z. E. wie viel Kraft benimmt diese dem Auge! -- Die Unbestimmt-
heiten so mancher Schatten, die von der bloß nachahmenden Zaghaftigkeit des Kupferstechers her-
rühren, wie zerstreuen diese! wie ermüden sie -- bey aller sonst noch vorhandenen Natürlichkeit! --
und dennoch -- aller dieser unläugbaren Fehler ungeachtet -- welche frappante Wahrheit im Gan-
zen! wie bestimmt die Situation! wie einfach! wie harmonisch! --

II.
Zweyte Tafel
A. B.

Wieder ein Paar Gesichter, die Aufmerksamkeit verdienen.

A -- ein Zürcher Bauer nach Cölla. Jch bitte, weniger die auffallende Rohigkeit des
Grundes -- oder, wenn man will, des Styles überhaupt, und mehr die so seltene Bestimmtheit,
Geradheit, Wahrheit des Ganzen zu betrachten.

Jch gesteh' aufrichtig, daß ich, als Physiognomist -- und hiemit auch als Beurtheiler der
Zeichnung -- denn nach welchen Regeln soll diese Beurtheilung geschehen, als nach den Regeln der
Physiognomik, das ist, der Wahrheit, der Uebereinstimmung des Bildes mit der charakteristischen
Wahrheit des Originals? -- Jch gesteh' aufrichtig, daß ich diesen rohern Styl voll Kraft und ent-
gegen springender Wahrheit -- aller feinen kraftlosen Verblasenheit des künstlichsten Grabstichels
weit weit vorziehe. Man soll, denk' ich, den Mann, nicht den Styl sehen; so wie in der Predigt
die Kraft der Wahrheit empfinden, und nicht Blümchen der Modeberedsamkeit sammeln. Jch ge-
steh' aufrichtig, daß ich, wenn ich so sagen darf, den Florstyl *) und den Metallstyl einiger der
berühmtesten Kupferstecher zwar sehr bewundere, und der Kunst desselben alle Gerechtigkeit wie-
derfahren lasse -- aber nimmermehr als den Styl der Wahrheit ausehen, empfehlen, oder anprei-

sen
*) [Spaltenumbruch] Florstyl der Kupfersiecher heiß ich die zarte, feine
Gravüre, wo jeder einzelne Zug zwar mit bewunderns-
würdiger Kunst geführt und mit allen andern in eine
angenehme Harmonie gebracht ist, wobey aber das
Ganze ohne Kraft und weittreffende Würkung ist -- so,
wie wenn das Bild mit einem dünnen, durchsichtigen
Flor überzogen wäre.
[Spaltenumbruch] Metallstyl -- heiß ich diejenige Kupferstechermanier,
die das Fleisch in Metall zu verwandeln scheint, die die
Figuren härtet und polirt, und ihnen das Ansehen giebt,
als wenn sie von Metall wären, oder doch gezeichnet
nach metallenen Figuren.

XXVI. Fragment. Treue, feſte Charakter
an Faͤhigkeit des Verſtandes, und Treue des Herzens gewinnen wuͤrde. Die Unbeſtimmtheit
des linken obern Auglieds — z. E. wie viel Kraft benimmt dieſe dem Auge! — Die Unbeſtimmt-
heiten ſo mancher Schatten, die von der bloß nachahmenden Zaghaftigkeit des Kupferſtechers her-
ruͤhren, wie zerſtreuen dieſe! wie ermuͤden ſie — bey aller ſonſt noch vorhandenen Natuͤrlichkeit! —
und dennoch — aller dieſer unlaͤugbaren Fehler ungeachtet — welche frappante Wahrheit im Gan-
zen! wie beſtimmt die Situation! wie einfach! wie harmoniſch! —

II.
Zweyte Tafel
A. B.

Wieder ein Paar Geſichter, die Aufmerkſamkeit verdienen.

A — ein Zuͤrcher Bauer nach Coͤlla. Jch bitte, weniger die auffallende Rohigkeit des
Grundes — oder, wenn man will, des Styles uͤberhaupt, und mehr die ſo ſeltene Beſtimmtheit,
Geradheit, Wahrheit des Ganzen zu betrachten.

Jch geſteh’ aufrichtig, daß ich, als Phyſiognomiſt — und hiemit auch als Beurtheiler der
Zeichnung — denn nach welchen Regeln ſoll dieſe Beurtheilung geſchehen, als nach den Regeln der
Phyſiognomik, das iſt, der Wahrheit, der Uebereinſtimmung des Bildes mit der charakteriſtiſchen
Wahrheit des Originals? — Jch geſteh’ aufrichtig, daß ich dieſen rohern Styl voll Kraft und ent-
gegen ſpringender Wahrheit — aller feinen kraftloſen Verblaſenheit des kuͤnſtlichſten Grabſtichels
weit weit vorziehe. Man ſoll, denk’ ich, den Mann, nicht den Styl ſehen; ſo wie in der Predigt
die Kraft der Wahrheit empfinden, und nicht Bluͤmchen der Modeberedſamkeit ſammeln. Jch ge-
ſteh’ aufrichtig, daß ich, wenn ich ſo ſagen darf, den Florſtyl *) und den Metallſtyl einiger der
beruͤhmteſten Kupferſtecher zwar ſehr bewundere, und der Kunſt deſſelben alle Gerechtigkeit wie-
derfahren laſſe — aber nimmermehr als den Styl der Wahrheit auſehen, empfehlen, oder anprei-

ſen
*) [Spaltenumbruch] Florſtyl der Kupferſiecher heiß ich die zarte, feine
Gravuͤre, wo jeder einzelne Zug zwar mit bewunderns-
wuͤrdiger Kunſt gefuͤhrt und mit allen andern in eine
angenehme Harmonie gebracht iſt, wobey aber das
Ganze ohne Kraft und weittreffende Wuͤrkung iſt — ſo,
wie wenn das Bild mit einem duͤnnen, durchſichtigen
Flor uͤberzogen waͤre.
[Spaltenumbruch] Metallſtyl — heiß ich diejenige Kupferſtechermanier,
die das Fleiſch in Metall zu verwandeln ſcheint, die die
Figuren haͤrtet und polirt, und ihnen das Anſehen giebt,
als wenn ſie von Metall waͤren, oder doch gezeichnet
nach metallenen Figuren.
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[212/0344] XXVI. Fragment. Treue, feſte Charakter an Faͤhigkeit des Verſtandes, und Treue des Herzens gewinnen wuͤrde. Die Unbeſtimmtheit des linken obern Auglieds — z. E. wie viel Kraft benimmt dieſe dem Auge! — Die Unbeſtimmt- heiten ſo mancher Schatten, die von der bloß nachahmenden Zaghaftigkeit des Kupferſtechers her- ruͤhren, wie zerſtreuen dieſe! wie ermuͤden ſie — bey aller ſonſt noch vorhandenen Natuͤrlichkeit! — und dennoch — aller dieſer unlaͤugbaren Fehler ungeachtet — welche frappante Wahrheit im Gan- zen! wie beſtimmt die Situation! wie einfach! wie harmoniſch! — II. Zweyte Tafel A. B. Wieder ein Paar Geſichter, die Aufmerkſamkeit verdienen. A — ein Zuͤrcher Bauer nach Coͤlla. Jch bitte, weniger die auffallende Rohigkeit des Grundes — oder, wenn man will, des Styles uͤberhaupt, und mehr die ſo ſeltene Beſtimmtheit, Geradheit, Wahrheit des Ganzen zu betrachten. Jch geſteh’ aufrichtig, daß ich, als Phyſiognomiſt — und hiemit auch als Beurtheiler der Zeichnung — denn nach welchen Regeln ſoll dieſe Beurtheilung geſchehen, als nach den Regeln der Phyſiognomik, das iſt, der Wahrheit, der Uebereinſtimmung des Bildes mit der charakteriſtiſchen Wahrheit des Originals? — Jch geſteh’ aufrichtig, daß ich dieſen rohern Styl voll Kraft und ent- gegen ſpringender Wahrheit — aller feinen kraftloſen Verblaſenheit des kuͤnſtlichſten Grabſtichels weit weit vorziehe. Man ſoll, denk’ ich, den Mann, nicht den Styl ſehen; ſo wie in der Predigt die Kraft der Wahrheit empfinden, und nicht Bluͤmchen der Modeberedſamkeit ſammeln. Jch ge- ſteh’ aufrichtig, daß ich, wenn ich ſo ſagen darf, den Florſtyl *) und den Metallſtyl einiger der beruͤhmteſten Kupferſtecher zwar ſehr bewundere, und der Kunſt deſſelben alle Gerechtigkeit wie- derfahren laſſe — aber nimmermehr als den Styl der Wahrheit auſehen, empfehlen, oder anprei- ſen *) Florſtyl der Kupferſiecher heiß ich die zarte, feine Gravuͤre, wo jeder einzelne Zug zwar mit bewunderns- wuͤrdiger Kunſt gefuͤhrt und mit allen andern in eine angenehme Harmonie gebracht iſt, wobey aber das Ganze ohne Kraft und weittreffende Wuͤrkung iſt — ſo, wie wenn das Bild mit einem duͤnnen, durchſichtigen Flor uͤberzogen waͤre. Metallſtyl — heiß ich diejenige Kupferſtechermanier, die das Fleiſch in Metall zu verwandeln ſcheint, die die Figuren haͤrtet und polirt, und ihnen das Anſehen giebt, als wenn ſie von Metall waͤren, oder doch gezeichnet nach metallenen Figuren.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/344>, abgerufen am 22.11.2024.