Zweytes Fragment. Seltenheit des physiognomischen Beobachtungsgeistes.
So allgemein das dunkle, unbestimmte, physiognomische Gefühl ist; so selten ist der phy- siognomische Beobachtungsgeist. So viele Menschen physiognomisch fühlen; -- so wenige denken physiognomisch.
Keine leichtere Sache scheint zu seyn, als Beobachten -- und keine ist seltener. Beob- achten, heißt bey den Mannichfaltigkeiten einer Sache verweilen; eine Sache erst theilweise betrachten, und dann sie ganz mit andern neben ihr existirenden oder möglichen Sachen verglei- chen; sich das, was sie auszeichnet, bestimmt, zu derjenigen Sache macht, die sie ist -- klar und deutlich vorzeichnen und einprägen; -- sich das individuelle einer Sache im Ganzen und stückweise vergegenwärtigen, so daß man diese Merkmale dergestalt inne hat, daß man dieselbe mit nichts in der Welt, und wenn's ihr auch noch so ähnlich wäre, verwechseln kann.
Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menschen über ein und eben das- selbe Porträt anhören, so wird man sich sogleich von dem allgemeinen Mangel des genauen Beobachtungsgeistes überzeugen können. Nichts aber hat mich so sehr, und wider alle meine Erwartung, von dieser äussersten Seltenheit des wahren Beobachtungsgeistes, selbst an Män- nern von Genie, selbst an würklich berühmten und ruhmwürdigen Beobachtern, selbst an weit größern Physiognomisten, als ich in meinem Leben je zu werden mir schmeicheln kann -- Nichts, sag' ich, hat mich von der Seltenheit des ächten Beobachtungsgeistes selbst an großen Männern so sehr überzeugt -- wie die Vermischung ganz verschiedener Porträte und Schatten- risse! Man hat die treffendsten vollkommensten Aehnlichkeiten zwischen namenlosen Porträten und Schattenbildern im I. Theil und zwischen lebenden Personen gefunden; man hat die Ur- theile, die darüber gefällt wurden -- für höchst ungegründet, wenigstens äusserst unvollständig erklärt -- und das war ganz natürlich; denn ich recensirte Schattenrisse von Zürchern und Schweizern -- und man suchte die Urbilder dazu in Berlin und Hannover. Die Mißbeobach- tung ist sehr leicht, und eben dasselbe ist mir vermuthlich schon mehrmals wiederfahren. Allein --
alles
II. Fragment. Seltenheit
Zweytes Fragment. Seltenheit des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.
So allgemein das dunkle, unbeſtimmte, phyſiognomiſche Gefuͤhl iſt; ſo ſelten iſt der phy- ſiognomiſche Beobachtungsgeiſt. So viele Menſchen phyſiognomiſch fuͤhlen; — ſo wenige denken phyſiognomiſch.
Keine leichtere Sache ſcheint zu ſeyn, als Beobachten — und keine iſt ſeltener. Beob- achten, heißt bey den Mannichfaltigkeiten einer Sache verweilen; eine Sache erſt theilweiſe betrachten, und dann ſie ganz mit andern neben ihr exiſtirenden oder moͤglichen Sachen verglei- chen; ſich das, was ſie auszeichnet, beſtimmt, zu derjenigen Sache macht, die ſie iſt — klar und deutlich vorzeichnen und einpraͤgen; — ſich das individuelle einer Sache im Ganzen und ſtuͤckweiſe vergegenwaͤrtigen, ſo daß man dieſe Merkmale dergeſtalt inne hat, daß man dieſelbe mit nichts in der Welt, und wenn’s ihr auch noch ſo aͤhnlich waͤre, verwechſeln kann.
Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menſchen uͤber ein und eben daſ- ſelbe Portraͤt anhoͤren, ſo wird man ſich ſogleich von dem allgemeinen Mangel des genauen Beobachtungsgeiſtes uͤberzeugen koͤnnen. Nichts aber hat mich ſo ſehr, und wider alle meine Erwartung, von dieſer aͤuſſerſten Seltenheit des wahren Beobachtungsgeiſtes, ſelbſt an Maͤn- nern von Genie, ſelbſt an wuͤrklich beruͤhmten und ruhmwuͤrdigen Beobachtern, ſelbſt an weit groͤßern Phyſiognomiſten, als ich in meinem Leben je zu werden mir ſchmeicheln kann — Nichts, ſag’ ich, hat mich von der Seltenheit des aͤchten Beobachtungsgeiſtes ſelbſt an großen Maͤnnern ſo ſehr uͤberzeugt — wie die Vermiſchung ganz verſchiedener Portraͤte und Schatten- riſſe! Man hat die treffendſten vollkommenſten Aehnlichkeiten zwiſchen namenloſen Portraͤten und Schattenbildern im I. Theil und zwiſchen lebenden Perſonen gefunden; man hat die Ur- theile, die daruͤber gefaͤllt wurden — fuͤr hoͤchſt ungegruͤndet, wenigſtens aͤuſſerſt unvollſtaͤndig erklaͤrt — und das war ganz natuͤrlich; denn ich recenſirte Schattenriſſe von Zuͤrchern und Schweizern — und man ſuchte die Urbilder dazu in Berlin und Hannover. Die Mißbeobach- tung iſt ſehr leicht, und eben daſſelbe iſt mir vermuthlich ſchon mehrmals wiederfahren. Allein —
alles
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II. Fragment. Seltenheit
Zweytes Fragment.
Seltenheit des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.
So allgemein das dunkle, unbeſtimmte, phyſiognomiſche Gefuͤhl iſt; ſo ſelten iſt der phy-
ſiognomiſche Beobachtungsgeiſt. So viele Menſchen phyſiognomiſch fuͤhlen; — ſo wenige
denken phyſiognomiſch.
Keine leichtere Sache ſcheint zu ſeyn, als Beobachten — und keine iſt ſeltener. Beob-
achten, heißt bey den Mannichfaltigkeiten einer Sache verweilen; eine Sache erſt theilweiſe
betrachten, und dann ſie ganz mit andern neben ihr exiſtirenden oder moͤglichen Sachen verglei-
chen; ſich das, was ſie auszeichnet, beſtimmt, zu derjenigen Sache macht, die ſie iſt — klar
und deutlich vorzeichnen und einpraͤgen; — ſich das individuelle einer Sache im Ganzen und
ſtuͤckweiſe vergegenwaͤrtigen, ſo daß man dieſe Merkmale dergeſtalt inne hat, daß man dieſelbe
mit nichts in der Welt, und wenn’s ihr auch noch ſo aͤhnlich waͤre, verwechſeln kann.
Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menſchen uͤber ein und eben daſ-
ſelbe Portraͤt anhoͤren, ſo wird man ſich ſogleich von dem allgemeinen Mangel des genauen
Beobachtungsgeiſtes uͤberzeugen koͤnnen. Nichts aber hat mich ſo ſehr, und wider alle meine
Erwartung, von dieſer aͤuſſerſten Seltenheit des wahren Beobachtungsgeiſtes, ſelbſt an Maͤn-
nern von Genie, ſelbſt an wuͤrklich beruͤhmten und ruhmwuͤrdigen Beobachtern, ſelbſt an weit
groͤßern Phyſiognomiſten, als ich in meinem Leben je zu werden mir ſchmeicheln kann —
Nichts, ſag’ ich, hat mich von der Seltenheit des aͤchten Beobachtungsgeiſtes ſelbſt an großen
Maͤnnern ſo ſehr uͤberzeugt — wie die Vermiſchung ganz verſchiedener Portraͤte und Schatten-
riſſe! Man hat die treffendſten vollkommenſten Aehnlichkeiten zwiſchen namenloſen Portraͤten
und Schattenbildern im I. Theil und zwiſchen lebenden Perſonen gefunden; man hat die Ur-
theile, die daruͤber gefaͤllt wurden — fuͤr hoͤchſt ungegruͤndet, wenigſtens aͤuſſerſt unvollſtaͤndig
erklaͤrt — und das war ganz natuͤrlich; denn ich recenſirte Schattenriſſe von Zuͤrchern und
Schweizern — und man ſuchte die Urbilder dazu in Berlin und Hannover. Die Mißbeobach-
tung iſt ſehr leicht, und eben daſſelbe iſt mir vermuthlich ſchon mehrmals wiederfahren. Allein —
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/34>, abgerufen am 16.02.2025.
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