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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XIV. Fragment. Von Kinderschädeln.

Diese vorausgesetzte ungleiche Zunahme der beyden Haupttheile des Schädels (denn von
einzelnen Theilen und Knochen kann ich itzt nichts bestimmtes sagen) muß nothwendig einen großen
Unterschied im Ganzen hervorbringen, ohne der dickern Ränder, Gräthen, schärfern Ecken, ein-
zelner Höcker und dergleichen, die größtentheils von der Würkung der Muskeln herkommen kön-
nen, dabey zu gedenken.

Dem zufolge würde das Gesicht unter der Stirne zum Theil mehr vorwärts geschoben,
und da zugleich die Seitentheile, nämlich die Schlafbeine, die auch später ganz ausgebildet werden,
sich immer mehr von einander entfernen, so verliert der Schädel nach und nach von der birnen-
förmigen Gestalt, die er mir bey der zarten Frucht zu haben scheint. Die Veränderung des Un-
terkiefers ist hiebey besonders merkwürdig. Jch will die Worte eines Anatomikers, Kerkrings
anführen: "Der Unterkiefer fängt schon im zweyten Monat an, knöchern zu werden. Seine
"Gestalt aber ist noch so sonderbar, daß ich nicht weiß, womit ich dieselbe vergleichen soll. Er
"besteht nämlich aus zwey beinernen Stücken, die sich unter der Nase in eine scharfe Spitze verei-
"nigen, welche so weit über den Oberkiefer hervorragt, daß sie nichts weniger als die künftige Ge-
"stalt eines menschlichen Kinns verspricht. Jndem aber der Kopf zunimmt, und sich die Schlaf-
"beine, mit welchen der eine Fortsatz des Unterkiefers eingelenkt ist, immer mehr und mehr von
"einander entfernen, so verschwindet nach und nach diese spitzige Hervorragung, bis sie endlich dem
"Oberkiefer fast gleich eben wird u. s. w."

Ferner: Es zeigen sich sowohl am Ober-als Unterkiefer im siebenten, achten und neun-
ten Monat gewisse Erhöhungen viel deutlicher, als bey Erwachsenen, dieses sind die Zellen und
Behältnisse der Zähne, die anfänglich, bey der noch dünnern Schale des Knochens, stärker her-
vorragen, und nachgehends, wenn das Bein im übrigen stärker und dicker wird, von aussen we-
niger sichtbar werden. -- Es ist zu bemerken, *) daß bey Kindern zwo Reihen von Zahnzellen
in jedem Kiefer vorhanden sind, die vordern und hintern. Jn den vordern stecken die sogenann-
ten Milchzähne, die bis zum vierzehnten Jahre wieder ausfallen, und von denen in der zweyten
Reihe ersetzt werden, da dann die vordern Zellen ganz verschwinden -- Dieser Umstand macht

wieder
*) S. Boehmeri Institut. osteolog. de dent.
XIV. Fragment. Von Kinderſchaͤdeln.

Dieſe vorausgeſetzte ungleiche Zunahme der beyden Haupttheile des Schaͤdels (denn von
einzelnen Theilen und Knochen kann ich itzt nichts beſtimmtes ſagen) muß nothwendig einen großen
Unterſchied im Ganzen hervorbringen, ohne der dickern Raͤnder, Graͤthen, ſchaͤrfern Ecken, ein-
zelner Hoͤcker und dergleichen, die groͤßtentheils von der Wuͤrkung der Muskeln herkommen koͤn-
nen, dabey zu gedenken.

Dem zufolge wuͤrde das Geſicht unter der Stirne zum Theil mehr vorwaͤrts geſchoben,
und da zugleich die Seitentheile, naͤmlich die Schlafbeine, die auch ſpaͤter ganz ausgebildet werden,
ſich immer mehr von einander entfernen, ſo verliert der Schaͤdel nach und nach von der birnen-
foͤrmigen Geſtalt, die er mir bey der zarten Frucht zu haben ſcheint. Die Veraͤnderung des Un-
terkiefers iſt hiebey beſonders merkwuͤrdig. Jch will die Worte eines Anatomikers, Kerkrings
anfuͤhren: „Der Unterkiefer faͤngt ſchon im zweyten Monat an, knoͤchern zu werden. Seine
„Geſtalt aber iſt noch ſo ſonderbar, daß ich nicht weiß, womit ich dieſelbe vergleichen ſoll. Er
„beſteht naͤmlich aus zwey beinernen Stuͤcken, die ſich unter der Naſe in eine ſcharfe Spitze verei-
„nigen, welche ſo weit uͤber den Oberkiefer hervorragt, daß ſie nichts weniger als die kuͤnftige Ge-
„ſtalt eines menſchlichen Kinns verſpricht. Jndem aber der Kopf zunimmt, und ſich die Schlaf-
„beine, mit welchen der eine Fortſatz des Unterkiefers eingelenkt iſt, immer mehr und mehr von
„einander entfernen, ſo verſchwindet nach und nach dieſe ſpitzige Hervorragung, bis ſie endlich dem
„Oberkiefer faſt gleich eben wird u. ſ. w.“

Ferner: Es zeigen ſich ſowohl am Ober-als Unterkiefer im ſiebenten, achten und neun-
ten Monat gewiſſe Erhoͤhungen viel deutlicher, als bey Erwachſenen, dieſes ſind die Zellen und
Behaͤltniſſe der Zaͤhne, die anfaͤnglich, bey der noch duͤnnern Schale des Knochens, ſtaͤrker her-
vorragen, und nachgehends, wenn das Bein im uͤbrigen ſtaͤrker und dicker wird, von auſſen we-
niger ſichtbar werden. — Es iſt zu bemerken, *) daß bey Kindern zwo Reihen von Zahnzellen
in jedem Kiefer vorhanden ſind, die vordern und hintern. Jn den vordern ſtecken die ſogenann-
ten Milchzaͤhne, die bis zum vierzehnten Jahre wieder ausfallen, und von denen in der zweyten
Reihe erſetzt werden, da dann die vordern Zellen ganz verſchwinden — Dieſer Umſtand macht

wieder
*) S. Boehmeri Inſtitut. oſteolog. de dent.
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[164/0230] XIV. Fragment. Von Kinderſchaͤdeln. Dieſe vorausgeſetzte ungleiche Zunahme der beyden Haupttheile des Schaͤdels (denn von einzelnen Theilen und Knochen kann ich itzt nichts beſtimmtes ſagen) muß nothwendig einen großen Unterſchied im Ganzen hervorbringen, ohne der dickern Raͤnder, Graͤthen, ſchaͤrfern Ecken, ein- zelner Hoͤcker und dergleichen, die groͤßtentheils von der Wuͤrkung der Muskeln herkommen koͤn- nen, dabey zu gedenken. Dem zufolge wuͤrde das Geſicht unter der Stirne zum Theil mehr vorwaͤrts geſchoben, und da zugleich die Seitentheile, naͤmlich die Schlafbeine, die auch ſpaͤter ganz ausgebildet werden, ſich immer mehr von einander entfernen, ſo verliert der Schaͤdel nach und nach von der birnen- foͤrmigen Geſtalt, die er mir bey der zarten Frucht zu haben ſcheint. Die Veraͤnderung des Un- terkiefers iſt hiebey beſonders merkwuͤrdig. Jch will die Worte eines Anatomikers, Kerkrings anfuͤhren: „Der Unterkiefer faͤngt ſchon im zweyten Monat an, knoͤchern zu werden. Seine „Geſtalt aber iſt noch ſo ſonderbar, daß ich nicht weiß, womit ich dieſelbe vergleichen ſoll. Er „beſteht naͤmlich aus zwey beinernen Stuͤcken, die ſich unter der Naſe in eine ſcharfe Spitze verei- „nigen, welche ſo weit uͤber den Oberkiefer hervorragt, daß ſie nichts weniger als die kuͤnftige Ge- „ſtalt eines menſchlichen Kinns verſpricht. Jndem aber der Kopf zunimmt, und ſich die Schlaf- „beine, mit welchen der eine Fortſatz des Unterkiefers eingelenkt iſt, immer mehr und mehr von „einander entfernen, ſo verſchwindet nach und nach dieſe ſpitzige Hervorragung, bis ſie endlich dem „Oberkiefer faſt gleich eben wird u. ſ. w.“ Ferner: Es zeigen ſich ſowohl am Ober-als Unterkiefer im ſiebenten, achten und neun- ten Monat gewiſſe Erhoͤhungen viel deutlicher, als bey Erwachſenen, dieſes ſind die Zellen und Behaͤltniſſe der Zaͤhne, die anfaͤnglich, bey der noch duͤnnern Schale des Knochens, ſtaͤrker her- vorragen, und nachgehends, wenn das Bein im uͤbrigen ſtaͤrker und dicker wird, von auſſen we- niger ſichtbar werden. — Es iſt zu bemerken, *) daß bey Kindern zwo Reihen von Zahnzellen in jedem Kiefer vorhanden ſind, die vordern und hintern. Jn den vordern ſtecken die ſogenann- ten Milchzaͤhne, die bis zum vierzehnten Jahre wieder ausfallen, und von denen in der zweyten Reihe erſetzt werden, da dann die vordern Zellen ganz verſchwinden — Dieſer Umſtand macht wieder *) S. Boehmeri Inſtitut. oſteolog. de dent.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/230>, abgerufen am 22.11.2024.