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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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des physiognomischen Gefühles.
"Gesicht" -- "Bey dem ist einem wohl zu Muthe" -- "Der hat ein schlimmes Paar Augen" --
"Er sieht kränklich aus" -- "Die Ehrlichkeit spricht ihm aus den Augen" -- "Jch gäb ihm was
"bloß auf sein Gesicht" -- "Wenn der mich betrügt, so betrügt mich alles in der Welt" --
"Der Mann hat ein offnes Gesicht" -- "Jch traue diesem Lächeln nicht" -- "Er darf ja niemanden
"in die Augen sehen" -- -- Selber die antiphysiognomischen Urtheile -- bestätigen, als Ausnah-
men, die Allgemeinheit des physiognomischen Gefühles -- "Seine Physiognomie ist wider
"ihn" -- "Das hätt' ich dem Manne nicht angesehn; nicht zugetraut" -- "Er ist besser, ist
"schlimmer, als sein Gesicht u. s. w.

Man beobachte vom höchsten Weltmann an bis auf den gemeinsten Menschen aus dem
niedrigsten Pöbel -- und höre ihre Urtheile über die Menschen, mit denen sie umgehen, und
man wird erstaunen, wie viel bloß physiognomisches mit unterläuft. Jch habe diese Bemerkung
seit einiger Zeit so oft zu machen Gelegenheit gehabt, bey Leuten, die nicht wissen, daß ich
eine Schrift über diese Sache verfertige -- bey Leuten, die in ihrem Leben das Wort Phy-
siognomie
nie gehört hatten, daß ich's auf die Probe will ankommen lassen, wo man will,
ob nicht alle Menschen, ohn' es zu wissen, mehr oder weniger dem physiognomischen Gefühle
folgen?

Noch ein anderer eben so auffallender, obgleich nicht genug bemerkter, Beweis für die
Allgemeinheit dieses physiognomischen Gefühles, das ist, dieser dunkeln Empfindung des Unter-
schiedes des innern Charakters nach dem Unterschiede des Aeussern -- ist die Menge physiogno-
mischer Wörter in allen Sprachen und bey allen Nationen; die Menge moralischer Benen-
nungen, die im Grunde bloß physiognomisch sind. Dieser Beweis verdiente eine ganz beson-
dere Ausführung; für die Sprachkenntniß und Bestimmung des Sinnes der Wörter, wie wich-
tig -- und wie neu und interessant! -- Hieher gehörten auch die physiognomischen Sprüchwörter.
Jch bin aber dieses auszuführen nicht gelehrt genug, und nachzusuchen, hab' ich nicht Muße ge-
nug, um dieß durch viele Beyspiele, Beyspiele aller Sprachen, ins Licht zu setzen.

Hieher gehört vielleicht auch die Menge physiognomischer Züge, Charaktere, Beschrei-
bungen, die man in den größten Dichtern so häufig findet -- und die sich allen Lesern von Ge-
schmack, Empfindung, Menschenkenntniß und Menschentheilnehmung so sehr empfehlen -- Man

bemerke
Phys. Fragm. II Versuch. B

des phyſiognomiſchen Gefuͤhles.
„Geſicht“ — „Bey dem iſt einem wohl zu Muthe“ — „Der hat ein ſchlimmes Paar Augen“ —
„Er ſieht kraͤnklich aus“ — „Die Ehrlichkeit ſpricht ihm aus den Augen“ — „Jch gaͤb ihm was
„bloß auf ſein Geſicht“ — „Wenn der mich betruͤgt, ſo betruͤgt mich alles in der Welt“ —
„Der Mann hat ein offnes Geſicht“ — „Jch traue dieſem Laͤcheln nicht“ — „Er darf ja niemanden
„in die Augen ſehen“ — — Selber die antiphyſiognomiſchen Urtheile — beſtaͤtigen, als Ausnah-
men, die Allgemeinheit des phyſiognomiſchen Gefuͤhles — „Seine Phyſiognomie iſt wider
„ihn“ — „Das haͤtt’ ich dem Manne nicht angeſehn; nicht zugetraut“ — „Er iſt beſſer, iſt
„ſchlimmer, als ſein Geſicht u. ſ. w.

Man beobachte vom hoͤchſten Weltmann an bis auf den gemeinſten Menſchen aus dem
niedrigſten Poͤbel — und hoͤre ihre Urtheile uͤber die Menſchen, mit denen ſie umgehen, und
man wird erſtaunen, wie viel bloß phyſiognomiſches mit unterlaͤuft. Jch habe dieſe Bemerkung
ſeit einiger Zeit ſo oft zu machen Gelegenheit gehabt, bey Leuten, die nicht wiſſen, daß ich
eine Schrift uͤber dieſe Sache verfertige — bey Leuten, die in ihrem Leben das Wort Phy-
ſiognomie
nie gehoͤrt hatten, daß ich’s auf die Probe will ankommen laſſen, wo man will,
ob nicht alle Menſchen, ohn’ es zu wiſſen, mehr oder weniger dem phyſiognomiſchen Gefuͤhle
folgen?

Noch ein anderer eben ſo auffallender, obgleich nicht genug bemerkter, Beweis fuͤr die
Allgemeinheit dieſes phyſiognomiſchen Gefuͤhles, das iſt, dieſer dunkeln Empfindung des Unter-
ſchiedes des innern Charakters nach dem Unterſchiede des Aeuſſern — iſt die Menge phyſiogno-
miſcher Woͤrter in allen Sprachen und bey allen Nationen; die Menge moraliſcher Benen-
nungen, die im Grunde bloß phyſiognomiſch ſind. Dieſer Beweis verdiente eine ganz beſon-
dere Ausfuͤhrung; fuͤr die Sprachkenntniß und Beſtimmung des Sinnes der Woͤrter, wie wich-
tig — und wie neu und intereſſant! — Hieher gehoͤrten auch die phyſiognomiſchen Spruͤchwoͤrter.
Jch bin aber dieſes auszufuͤhren nicht gelehrt genug, und nachzuſuchen, hab’ ich nicht Muße ge-
nug, um dieß durch viele Beyſpiele, Beyſpiele aller Sprachen, ins Licht zu ſetzen.

Hieher gehoͤrt vielleicht auch die Menge phyſiognomiſcher Zuͤge, Charaktere, Beſchrei-
bungen, die man in den groͤßten Dichtern ſo haͤufig findet — und die ſich allen Leſern von Ge-
ſchmack, Empfindung, Menſchenkenntniß und Menſchentheilnehmung ſo ſehr empfehlen — Man

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/23>, abgerufen am 18.12.2024.