Dieselbe Kraft kann wie derselbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der mensch- lichen Gesellschaft angewandt werden. Mit demselben Reichthume kann einer ein Heiliger, oder ein Teufel werden. Wie mit dem Reichthum, oder willkührlicher und positifer Kraft -- so mit natürlicher, angeborner Kraft. Wie von hundert Reichen neun und neunzig keine Heilige wer- den, so kaum Einer unter hundert Menschen von entschiedener Urkraft.
Wo also an einem Schädel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man -- freylich nicht sagen: "das ist ein Spitzbube!" -- aber man kann sagen -- "hier war Ueberfluß "von Stoßkraft, ohne einschränkende coexistirende Besänftigungen; -- es ist also die höchste Wahr- "scheinlichkeit -- der hatte Eroberungsgeist -- war entweder ein General und Eroberer, ein Cä- "sar, oder -- ein Spitzbube, ein Cartouche -- unter solchen und solchen Umständen hat er ver- "muthlich so gehandelt -- er würde unter andern Umständen so, allemal aber heftig, stürmisch, im- "mer als Herrscher, Eroberer gehandelt haben. --
So läßt sich von gewissen bloßen Schädeln sagen: "der ganze Bau, die Form, das Zarte, "das Pergamentähnliche -- zeigt klar -- Schwäche -- zeigt bloß Empfänglichkeit ohne "Stoßkraft, Schöpfungskraft -- -- -- Jn solchen Umständen also hätten diese Menschen schwach "gehandelt. Sie hätten natürlicherweise dieser oder jener Versuchung nicht widerstanden, sie hät- "ten nicht Muth genug gehabt, dieses oder jenes zu unternehmen. Jn der großen Welt wären sie "Dirnen -- auf einem kleinen Edelhofe verliebt, in einem Kloster schwärmerische Heilige ge- "worden." --
O dieselbe Kraft, dieselbe Empfindlichkeit, dieselbe Empfänglichkeit -- wie ungleich kann sie würken? wie ungleich empfinden? wie ungleich empfangen?
Und eben hieraus läßt sich die Möglichkeit -- von Prädestination und Freyheit, in Einem und demselben Subjekte zum Theil begreifen.
Man führe den gemeinsten Menschen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen auf die Verschiedenheit der Schädel aufmerksam ... Jn kurzer Zeit wird er's entweder selber finden, oder doch begreifen, wenn man es ihm sagt: "hier ist Schwäche -- dort Stärke! -- hier "Eigensinn -- dort Wankelmuth!" --
Cäsars
XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel.
Dieſelbe Kraft kann wie derſelbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der menſch- lichen Geſellſchaft angewandt werden. Mit demſelben Reichthume kann einer ein Heiliger, oder ein Teufel werden. Wie mit dem Reichthum, oder willkuͤhrlicher und poſitifer Kraft — ſo mit natuͤrlicher, angeborner Kraft. Wie von hundert Reichen neun und neunzig keine Heilige wer- den, ſo kaum Einer unter hundert Menſchen von entſchiedener Urkraft.
Wo alſo an einem Schaͤdel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man — freylich nicht ſagen: „das iſt ein Spitzbube!“ — aber man kann ſagen — „hier war Ueberfluß „von Stoßkraft, ohne einſchraͤnkende coexiſtirende Beſaͤnftigungen; — es iſt alſo die hoͤchſte Wahr- „ſcheinlichkeit — der hatte Eroberungsgeiſt — war entweder ein General und Eroberer, ein Caͤ- „ſar, oder — ein Spitzbube, ein Cartouche — unter ſolchen und ſolchen Umſtaͤnden hat er ver- „muthlich ſo gehandelt — er wuͤrde unter andern Umſtaͤnden ſo, allemal aber heftig, ſtuͤrmiſch, im- „mer als Herrſcher, Eroberer gehandelt haben. —
So laͤßt ſich von gewiſſen bloßen Schaͤdeln ſagen: „der ganze Bau, die Form, das Zarte, „das Pergamentaͤhnliche — zeigt klar — Schwaͤche — zeigt bloß Empfaͤnglichkeit ohne „Stoßkraft, Schoͤpfungskraft — — — Jn ſolchen Umſtaͤnden alſo haͤtten dieſe Menſchen ſchwach „gehandelt. Sie haͤtten natuͤrlicherweiſe dieſer oder jener Verſuchung nicht widerſtanden, ſie haͤt- „ten nicht Muth genug gehabt, dieſes oder jenes zu unternehmen. Jn der großen Welt waͤren ſie „Dirnen — auf einem kleinen Edelhofe verliebt, in einem Kloſter ſchwaͤrmeriſche Heilige ge- „worden.“ —
O dieſelbe Kraft, dieſelbe Empfindlichkeit, dieſelbe Empfaͤnglichkeit — wie ungleich kann ſie wuͤrken? wie ungleich empfinden? wie ungleich empfangen?
Und eben hieraus laͤßt ſich die Moͤglichkeit — von Praͤdeſtination und Freyheit, in Einem und demſelben Subjekte zum Theil begreifen.
Man fuͤhre den gemeinſten Menſchen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen auf die Verſchiedenheit der Schaͤdel aufmerkſam ... Jn kurzer Zeit wird er’s entweder ſelber finden, oder doch begreifen, wenn man es ihm ſagt: „hier iſt Schwaͤche — dort Staͤrke! — hier „Eigenſinn — dort Wankelmuth!“ —
Caͤſars
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XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel.
Dieſelbe Kraft kann wie derſelbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der menſch-
lichen Geſellſchaft angewandt werden. Mit demſelben Reichthume kann einer ein Heiliger, oder
ein Teufel werden. Wie mit dem Reichthum, oder willkuͤhrlicher und poſitifer Kraft — ſo mit
natuͤrlicher, angeborner Kraft. Wie von hundert Reichen neun und neunzig keine Heilige wer-
den, ſo kaum Einer unter hundert Menſchen von entſchiedener Urkraft.
Wo alſo an einem Schaͤdel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man —
freylich nicht ſagen: „das iſt ein Spitzbube!“ — aber man kann ſagen — „hier war Ueberfluß
„von Stoßkraft, ohne einſchraͤnkende coexiſtirende Beſaͤnftigungen; — es iſt alſo die hoͤchſte Wahr-
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„ſar, oder — ein Spitzbube, ein Cartouche — unter ſolchen und ſolchen Umſtaͤnden hat er ver-
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„mer als Herrſcher, Eroberer gehandelt haben. —
So laͤßt ſich von gewiſſen bloßen Schaͤdeln ſagen: „der ganze Bau, die Form, das Zarte,
„das Pergamentaͤhnliche — zeigt klar — Schwaͤche — zeigt bloß Empfaͤnglichkeit ohne
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„gehandelt. Sie haͤtten natuͤrlicherweiſe dieſer oder jener Verſuchung nicht widerſtanden, ſie haͤt-
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„Dirnen — auf einem kleinen Edelhofe verliebt, in einem Kloſter ſchwaͤrmeriſche Heilige ge-
„worden.“ —
O dieſelbe Kraft, dieſelbe Empfindlichkeit, dieſelbe Empfaͤnglichkeit — wie ungleich kann
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Und eben hieraus laͤßt ſich die Moͤglichkeit — von Praͤdeſtination und Freyheit, in Einem
und demſelben Subjekte zum Theil begreifen.
Man fuͤhre den gemeinſten Menſchen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen
auf die Verſchiedenheit der Schaͤdel aufmerkſam ... Jn kurzer Zeit wird er’s entweder ſelber
finden, oder doch begreifen, wenn man es ihm ſagt: „hier iſt Schwaͤche — dort Staͤrke! — hier
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/210>, abgerufen am 16.02.2025.
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