I. Von der Bildung der Knochen, besonders der Schädel.
Ueber den bloßen Schädel des Menschen -- wie viel kann der Zergliederer sagen? wie viel mehr der Physiognomist? wie viel mehr der Zergliederer, der Physiognomist ist?
Jch darf kaum aufsehen, wenn ich denke, was ich nicht weiß, und wissen sollte, um wür- dig über einen Theil des menschlichen Körpers, des Menschen, zu schreiben -- der über alle Erkennt- niß, allen Glauben, alle Vermuthung wichtig ist. --
Man kann es schon bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung des Menschen -- den Schädel für das Fundament des Knochensystems, und alles Fleisch beynahe nur für das Colorit dieser Zeichnung halte -- daß ich auf die Beschaffenheit, die Form und Wöl- bung des Schädels, so viel mir bewußt ist, mehr achte, als meine Vorgänger alle; daß ich diesen weit festern, weniger veränderlichen -- leichter bestimmbaren Theil des menschlichen Körpers für die Grundlage der Physiognomik angesehen wissen möchte.
Man wird mir also erlauben, mich weitläuftiger über diesen Theil des menschlichen Kör- pers zu erklären. --
Freylich weiß ich kaum, was ich zuerst, was zuletzt, was gar nicht sagen soll. --
Das Beste, denk' ich, wird wohl seyn, wenn wir erst ein paar Worte von der Erzeugung und Bildung der Knochen voran schicken. --
Der menschliche Foetus scheint anfangs durch und durch aus einem, dem Anscheine nach, beynahe gleichartigen, weichen, zusammengeronnenen Wesen zu bestehen. Die Knochen selbst er- zeugen sich bey ihrer ersten Erscheinung unter der Gestalt einer Gallerte, die nach und nach dich- ter, hernach knorpelartig, und zuletzt zum festen Knochen wird.
Wenn
Vierzehntes Fragment. Menſchenſchaͤdel.
I. Von der Bildung der Knochen, beſonders der Schaͤdel.
Ueber den bloßen Schaͤdel des Menſchen — wie viel kann der Zergliederer ſagen? wie viel mehr der Phyſiognomiſt? wie viel mehr der Zergliederer, der Phyſiognomiſt iſt?
Jch darf kaum aufſehen, wenn ich denke, was ich nicht weiß, und wiſſen ſollte, um wuͤr- dig uͤber einen Theil des menſchlichen Koͤrpers, des Menſchen, zu ſchreiben — der uͤber alle Erkennt- niß, allen Glauben, alle Vermuthung wichtig iſt. —
Man kann es ſchon bemerkt haben, daß ich das Knochenſyſtem fuͤr die Grundzeichnung des Menſchen — den Schaͤdel fuͤr das Fundament des Knochenſyſtems, und alles Fleiſch beynahe nur fuͤr das Colorit dieſer Zeichnung halte — daß ich auf die Beſchaffenheit, die Form und Woͤl- bung des Schaͤdels, ſo viel mir bewußt iſt, mehr achte, als meine Vorgaͤnger alle; daß ich dieſen weit feſtern, weniger veraͤnderlichen — leichter beſtimmbaren Theil des menſchlichen Koͤrpers fuͤr die Grundlage der Phyſiognomik angeſehen wiſſen moͤchte.
Man wird mir alſo erlauben, mich weitlaͤuftiger uͤber dieſen Theil des menſchlichen Koͤr- pers zu erklaͤren. —
Freylich weiß ich kaum, was ich zuerſt, was zuletzt, was gar nicht ſagen ſoll. —
Das Beſte, denk’ ich, wird wohl ſeyn, wenn wir erſt ein paar Worte von der Erzeugung und Bildung der Knochen voran ſchicken. —
Der menſchliche Foetus ſcheint anfangs durch und durch aus einem, dem Anſcheine nach, beynahe gleichartigen, weichen, zuſammengeronnenen Weſen zu beſtehen. Die Knochen ſelbſt er- zeugen ſich bey ihrer erſten Erſcheinung unter der Geſtalt einer Gallerte, die nach und nach dich- ter, hernach knorpelartig, und zuletzt zum feſten Knochen wird.
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Vierzehntes Fragment.
Menſchenſchaͤdel.
I.
Von der Bildung der Knochen, beſonders der Schaͤdel.
Ueber den bloßen Schaͤdel des Menſchen — wie viel kann der Zergliederer ſagen? wie viel
mehr der Phyſiognomiſt? wie viel mehr der Zergliederer, der Phyſiognomiſt iſt?
Jch darf kaum aufſehen, wenn ich denke, was ich nicht weiß, und wiſſen ſollte, um wuͤr-
dig uͤber einen Theil des menſchlichen Koͤrpers, des Menſchen, zu ſchreiben — der uͤber alle Erkennt-
niß, allen Glauben, alle Vermuthung wichtig iſt. —
Man kann es ſchon bemerkt haben, daß ich das Knochenſyſtem fuͤr die Grundzeichnung
des Menſchen — den Schaͤdel fuͤr das Fundament des Knochenſyſtems, und alles Fleiſch beynahe
nur fuͤr das Colorit dieſer Zeichnung halte — daß ich auf die Beſchaffenheit, die Form und Woͤl-
bung des Schaͤdels, ſo viel mir bewußt iſt, mehr achte, als meine Vorgaͤnger alle; daß ich dieſen
weit feſtern, weniger veraͤnderlichen — leichter beſtimmbaren Theil des menſchlichen Koͤrpers fuͤr
die Grundlage der Phyſiognomik angeſehen wiſſen moͤchte.
Man wird mir alſo erlauben, mich weitlaͤuftiger uͤber dieſen Theil des menſchlichen Koͤr-
pers zu erklaͤren. —
Freylich weiß ich kaum, was ich zuerſt, was zuletzt, was gar nicht ſagen ſoll. —
Das Beſte, denk’ ich, wird wohl ſeyn, wenn wir erſt ein paar Worte von der Erzeugung
und Bildung der Knochen voran ſchicken. —
Der menſchliche Foetus ſcheint anfangs durch und durch aus einem, dem Anſcheine nach,
beynahe gleichartigen, weichen, zuſammengeronnenen Weſen zu beſtehen. Die Knochen ſelbſt er-
zeugen ſich bey ihrer erſten Erſcheinung unter der Geſtalt einer Gallerte, die nach und nach dich-
ter, hernach knorpelartig, und zuletzt zum feſten Knochen wird.
Wenn
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/203>, abgerufen am 16.02.2025.
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