Der Geschlechtsunterschied des Menschen von den Thieren bezeichnet sich schon lebhaft im Kno- chenbau. Wie unser Haupt auf Rückenmark und Lebenskraft aufsitzt! Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes dasteht, in dem sich der Himmel bespiegeln soll! Wie unser Schädel sich wölbet, gleich dem Himmel über uns, damit das reine Bild der ewigen Sphären drinnen kreisen könne! Wie dieser Behälter des Gehirns den größten Theil unsers Kopfes aus- macht! Wie über den Kiefern alle Empfindungen auf- und absteigen und sich auf den Lippen ver- sammeln! Wie das Auge das beredteste von allen Organen, wo nicht Worte, doch bald der freundli- chen Liebehingebenheit, bald der grimmigen Anstrengung der Wangen, und aller Abschattun- gen dazwischen bedarf, um auszudrücken, ach nur um zu stammeln, was die innersten Tiefen der Menschheit durchdringt!
Und wie nun der Thierbau gerade das Gegentheil davon ist. Der Kopf an den Rück- grad nur angehängt! das Gehirn, Ende des Rückenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zu Auswürkung der Lebensgeister, und zu Leitung eines ganz gegenwärtig sinnlichen Geschöpfes nöthig ist. Denn ob wir ihnen gleich Erinnerung und überlegte Entscheidung nicht absprechen können, so liegt jene doch eher, ich möchte sagen, in primis viis der Sinne, und diese ent- springt aus dem Drange des Augenblicks, und dem Uebergewichte eines oder des andern Ge- genstandes.
Schnautze und Rachen sind die vorzüglichsten Theile eines Kopfs, der meist zum Spü- ren, Kauen und Schlingen da ist. Die Muskeln sind flach und fest gespannt, mit einer gro- ben rauhen Haut überzogen, alles reineren Ausdruckes unfähig.
Hier
Phys. Fragm.IIVersuch. S
Eingang.
Der Geſchlechtsunterſchied des Menſchen von den Thieren bezeichnet ſich ſchon lebhaft im Kno- chenbau. Wie unſer Haupt auf Ruͤckenmark und Lebenskraft aufſitzt! Wie die ganze Geſtalt als Grundpfeiler des Gewoͤlbes daſteht, in dem ſich der Himmel beſpiegeln ſoll! Wie unſer Schaͤdel ſich woͤlbet, gleich dem Himmel uͤber uns, damit das reine Bild der ewigen Sphaͤren drinnen kreiſen koͤnne! Wie dieſer Behaͤlter des Gehirns den groͤßten Theil unſers Kopfes aus- macht! Wie uͤber den Kiefern alle Empfindungen auf- und abſteigen und ſich auf den Lippen ver- ſammeln! Wie das Auge das beredteſte von allen Organen, wo nicht Worte, doch bald der freundli- chen Liebehingebenheit, bald der grimmigen Anſtrengung der Wangen, und aller Abſchattun- gen dazwiſchen bedarf, um auszudruͤcken, ach nur um zu ſtammeln, was die innerſten Tiefen der Menſchheit durchdringt!
Und wie nun der Thierbau gerade das Gegentheil davon iſt. Der Kopf an den Ruͤck- grad nur angehaͤngt! das Gehirn, Ende des Ruͤckenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zu Auswuͤrkung der Lebensgeiſter, und zu Leitung eines ganz gegenwaͤrtig ſinnlichen Geſchoͤpfes noͤthig iſt. Denn ob wir ihnen gleich Erinnerung und uͤberlegte Entſcheidung nicht abſprechen koͤnnen, ſo liegt jene doch eher, ich moͤchte ſagen, in primis viis der Sinne, und dieſe ent- ſpringt aus dem Drange des Augenblicks, und dem Uebergewichte eines oder des andern Ge- genſtandes.
Schnautze und Rachen ſind die vorzuͤglichſten Theile eines Kopfs, der meiſt zum Spuͤ- ren, Kauen und Schlingen da iſt. Die Muskeln ſind flach und feſt geſpannt, mit einer gro- ben rauhen Haut uͤberzogen, alles reineren Ausdruckes unfaͤhig.
Hier
Phyſ. Fragm.IIVerſuch. S
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0195"n="137"/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Eingang.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>er Geſchlechtsunterſchied des Menſchen von den Thieren bezeichnet ſich ſchon lebhaft im Kno-<lb/>
chenbau. Wie unſer Haupt auf Ruͤckenmark und Lebenskraft aufſitzt! Wie die ganze Geſtalt<lb/>
als Grundpfeiler des Gewoͤlbes daſteht, in dem ſich der Himmel beſpiegeln ſoll! Wie unſer<lb/>
Schaͤdel ſich woͤlbet, gleich dem Himmel uͤber uns, damit das reine Bild der ewigen Sphaͤren<lb/>
drinnen kreiſen koͤnne! Wie dieſer Behaͤlter des Gehirns den groͤßten Theil unſers Kopfes aus-<lb/>
macht! Wie uͤber den Kiefern alle Empfindungen auf- und abſteigen und ſich auf den Lippen ver-<lb/>ſammeln! Wie das Auge das beredteſte von allen Organen, wo nicht Worte, doch bald der freundli-<lb/>
chen Liebehingebenheit, bald der grimmigen Anſtrengung der Wangen, und aller Abſchattun-<lb/>
gen dazwiſchen bedarf, um auszudruͤcken, ach nur um zu ſtammeln, was die innerſten Tiefen<lb/>
der Menſchheit durchdringt!</p><lb/><p>Und wie nun der Thierbau gerade das Gegentheil davon iſt. Der Kopf an den Ruͤck-<lb/>
grad nur angehaͤngt! das Gehirn, Ende des Ruͤckenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zu<lb/>
Auswuͤrkung der Lebensgeiſter, und zu Leitung eines ganz gegenwaͤrtig ſinnlichen Geſchoͤpfes<lb/>
noͤthig iſt. Denn ob wir ihnen gleich Erinnerung und uͤberlegte Entſcheidung nicht abſprechen<lb/>
koͤnnen, ſo liegt jene doch eher, ich moͤchte ſagen, <hirendition="#aq">in primis viis</hi> der Sinne, und dieſe ent-<lb/>ſpringt aus dem Drange des Augenblicks, und dem Uebergewichte eines oder des andern Ge-<lb/>
genſtandes.</p><lb/><p>Schnautze und Rachen ſind die vorzuͤglichſten Theile eines Kopfs, der meiſt zum Spuͤ-<lb/>
ren, Kauen und Schlingen da iſt. Die Muskeln ſind flach und feſt geſpannt, mit einer gro-<lb/>
ben rauhen Haut uͤberzogen, alles reineren Ausdruckes unfaͤhig.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Phyſ. Fragm.</hi><hirendition="#aq">II</hi><hirendition="#fr">Verſuch.</hi> S</fw><fwplace="bottom"type="catch">Hier</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[137/0195]
Eingang.
Der Geſchlechtsunterſchied des Menſchen von den Thieren bezeichnet ſich ſchon lebhaft im Kno-
chenbau. Wie unſer Haupt auf Ruͤckenmark und Lebenskraft aufſitzt! Wie die ganze Geſtalt
als Grundpfeiler des Gewoͤlbes daſteht, in dem ſich der Himmel beſpiegeln ſoll! Wie unſer
Schaͤdel ſich woͤlbet, gleich dem Himmel uͤber uns, damit das reine Bild der ewigen Sphaͤren
drinnen kreiſen koͤnne! Wie dieſer Behaͤlter des Gehirns den groͤßten Theil unſers Kopfes aus-
macht! Wie uͤber den Kiefern alle Empfindungen auf- und abſteigen und ſich auf den Lippen ver-
ſammeln! Wie das Auge das beredteſte von allen Organen, wo nicht Worte, doch bald der freundli-
chen Liebehingebenheit, bald der grimmigen Anſtrengung der Wangen, und aller Abſchattun-
gen dazwiſchen bedarf, um auszudruͤcken, ach nur um zu ſtammeln, was die innerſten Tiefen
der Menſchheit durchdringt!
Und wie nun der Thierbau gerade das Gegentheil davon iſt. Der Kopf an den Ruͤck-
grad nur angehaͤngt! das Gehirn, Ende des Ruͤckenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zu
Auswuͤrkung der Lebensgeiſter, und zu Leitung eines ganz gegenwaͤrtig ſinnlichen Geſchoͤpfes
noͤthig iſt. Denn ob wir ihnen gleich Erinnerung und uͤberlegte Entſcheidung nicht abſprechen
koͤnnen, ſo liegt jene doch eher, ich moͤchte ſagen, in primis viis der Sinne, und dieſe ent-
ſpringt aus dem Drange des Augenblicks, und dem Uebergewichte eines oder des andern Ge-
genſtandes.
Schnautze und Rachen ſind die vorzuͤglichſten Theile eines Kopfs, der meiſt zum Spuͤ-
ren, Kauen und Schlingen da iſt. Die Muskeln ſind flach und feſt geſpannt, mit einer gro-
ben rauhen Haut uͤberzogen, alles reineren Ausdruckes unfaͤhig.
Hier
Phyſ. Fragm. II Verſuch. S
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/195>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.