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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Einleitung.
Aber nur das zu seyn, Leser, dazu bin ich zu stolz, und allein für den Zweck ist mein Werk
zu kostbar. --

Nicht bloß amüsiren möcht' ich Euch, Leser! -- Jch möcht' euch die Menschheit heilig und
ehrwürdig machen; möcht' Euch im Kleinsten, im Größten, im Theil, im Ganzen der Mensch-
heit -- Gottes Weisheit, Gottes Güte, Wahrheit Gottes aufschließen, fühlbar machen, wie alles,
das Geringste am Menschen, am Liebling Gottes, Ausdruck, Wahrheit, Offenbarung ist --
Aufschluß gegenwärtiger und künftiger Kräfte .... Steine möcht' ich hinlegen, oder hinwerfen, in
den Bach, der oft reissender Strom wird, hier einen kleinen, einen großen dort, auf den Euer
Fuß allenfalls treten, von da er fortschreiten kann von Ufer zu Ufer -- Etwa die Hand reichen
kann ich, oder den Stab; nicht mit dem Stabe den Strom spalten, daß wir trocken und Heerweise
durchkommen -- ins Land, das von Milch und Honig fließt. Menschen! Jch möchte mit Euch
den Menschen kennen, und fühlen lernen; -- fühlen lernen, welch Glück und Ehre es ist, Mensch
zu seyn.

Und dann, welche Hoffnung und Wonne, wenn es mir bisweilen höchst wahrscheinlich
wird -- daß ich wenigstens bey einigen -- wo nicht sogleich in der ersten Gährung, doch nach und
nach, vielleicht bey vielen, meinen Zweck zum Theil erreichen werde? Daß mir's doch gelingen
könnte, dieß heilige Gefühl der Menschenwürde allgemeiner zu machen? Welche Erhebung meines
Muths dann, welchen Zusammenfluß aller meiner Kräfte, welche Freudigkeit empfind' ich, wenn
ich mich in den Augenblicken, da ich mich hinsetze, über meine Arbeit nachzudenken, oder, die Fe-
der in der Hand, eine Tafel vor mir habe, deren Bedeutung ich in Worte fassen möchte, wenn ich
alsdann mich den Gedanken überlassen darf:

"Es ist doch für manchen Leser mehr als bloß Zeitkürzung! Zeitkürzung mag's für hun-
"derte seyn, (es ist immer gut, wenn diesen hunderten die Zeit kurz wird; wer weiß, was die Lan-
"geweile für schlimme Folgen für sie haben würde? ..) wenn's für zehen Stoff zum Nachdenken,
"zum Empfinden, und Handeln wird? Wenn unter zehen Einer sich seines Daseyns und seiner
"Menschheit innig erfreut; Einer von zehen neu empfindet -- -- wie wahrhaft in allen seinen
"Werken der ist, aus dem, und durch den alle Dinge sind?
Neu empfindet, daß auch das

Geringste
A 3

Einleitung.
Aber nur das zu ſeyn, Leſer, dazu bin ich zu ſtolz, und allein fuͤr den Zweck iſt mein Werk
zu koſtbar. —

Nicht bloß amuͤſiren moͤcht’ ich Euch, Leſer! — Jch moͤcht’ euch die Menſchheit heilig und
ehrwuͤrdig machen; moͤcht’ Euch im Kleinſten, im Groͤßten, im Theil, im Ganzen der Menſch-
heit — Gottes Weisheit, Gottes Guͤte, Wahrheit Gottes aufſchließen, fuͤhlbar machen, wie alles,
das Geringſte am Menſchen, am Liebling Gottes, Ausdruck, Wahrheit, Offenbarung iſt —
Aufſchluß gegenwaͤrtiger und kuͤnftiger Kraͤfte .... Steine moͤcht’ ich hinlegen, oder hinwerfen, in
den Bach, der oft reiſſender Strom wird, hier einen kleinen, einen großen dort, auf den Euer
Fuß allenfalls treten, von da er fortſchreiten kann von Ufer zu Ufer — Etwa die Hand reichen
kann ich, oder den Stab; nicht mit dem Stabe den Strom ſpalten, daß wir trocken und Heerweiſe
durchkommen — ins Land, das von Milch und Honig fließt. Menſchen! Jch moͤchte mit Euch
den Menſchen kennen, und fuͤhlen lernen; — fuͤhlen lernen, welch Gluͤck und Ehre es iſt, Menſch
zu ſeyn.

Und dann, welche Hoffnung und Wonne, wenn es mir bisweilen hoͤchſt wahrſcheinlich
wird — daß ich wenigſtens bey einigen — wo nicht ſogleich in der erſten Gaͤhrung, doch nach und
nach, vielleicht bey vielen, meinen Zweck zum Theil erreichen werde? Daß mir’s doch gelingen
koͤnnte, dieß heilige Gefuͤhl der Menſchenwuͤrde allgemeiner zu machen? Welche Erhebung meines
Muths dann, welchen Zuſammenfluß aller meiner Kraͤfte, welche Freudigkeit empfind’ ich, wenn
ich mich in den Augenblicken, da ich mich hinſetze, uͤber meine Arbeit nachzudenken, oder, die Fe-
der in der Hand, eine Tafel vor mir habe, deren Bedeutung ich in Worte faſſen moͤchte, wenn ich
alsdann mich den Gedanken uͤberlaſſen darf:

„Es iſt doch fuͤr manchen Leſer mehr als bloß Zeitkuͤrzung! Zeitkuͤrzung mag’s fuͤr hun-
„derte ſeyn, (es iſt immer gut, wenn dieſen hunderten die Zeit kurz wird; wer weiß, was die Lan-
„geweile fuͤr ſchlimme Folgen fuͤr ſie haben wuͤrde? ..) wenn’s fuͤr zehen Stoff zum Nachdenken,
„zum Empfinden, und Handeln wird? Wenn unter zehen Einer ſich ſeines Daſeyns und ſeiner
„Menſchheit innig erfreut; Einer von zehen neu empfindet — — wie wahrhaft in allen ſeinen
„Werken der iſt, aus dem, und durch den alle Dinge ſind?
Neu empfindet, daß auch das

Geringſte
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[5/0019] Einleitung. Aber nur das zu ſeyn, Leſer, dazu bin ich zu ſtolz, und allein fuͤr den Zweck iſt mein Werk zu koſtbar. — Nicht bloß amuͤſiren moͤcht’ ich Euch, Leſer! — Jch moͤcht’ euch die Menſchheit heilig und ehrwuͤrdig machen; moͤcht’ Euch im Kleinſten, im Groͤßten, im Theil, im Ganzen der Menſch- heit — Gottes Weisheit, Gottes Guͤte, Wahrheit Gottes aufſchließen, fuͤhlbar machen, wie alles, das Geringſte am Menſchen, am Liebling Gottes, Ausdruck, Wahrheit, Offenbarung iſt — Aufſchluß gegenwaͤrtiger und kuͤnftiger Kraͤfte .... Steine moͤcht’ ich hinlegen, oder hinwerfen, in den Bach, der oft reiſſender Strom wird, hier einen kleinen, einen großen dort, auf den Euer Fuß allenfalls treten, von da er fortſchreiten kann von Ufer zu Ufer — Etwa die Hand reichen kann ich, oder den Stab; nicht mit dem Stabe den Strom ſpalten, daß wir trocken und Heerweiſe durchkommen — ins Land, das von Milch und Honig fließt. Menſchen! Jch moͤchte mit Euch den Menſchen kennen, und fuͤhlen lernen; — fuͤhlen lernen, welch Gluͤck und Ehre es iſt, Menſch zu ſeyn. Und dann, welche Hoffnung und Wonne, wenn es mir bisweilen hoͤchſt wahrſcheinlich wird — daß ich wenigſtens bey einigen — wo nicht ſogleich in der erſten Gaͤhrung, doch nach und nach, vielleicht bey vielen, meinen Zweck zum Theil erreichen werde? Daß mir’s doch gelingen koͤnnte, dieß heilige Gefuͤhl der Menſchenwuͤrde allgemeiner zu machen? Welche Erhebung meines Muths dann, welchen Zuſammenfluß aller meiner Kraͤfte, welche Freudigkeit empfind’ ich, wenn ich mich in den Augenblicken, da ich mich hinſetze, uͤber meine Arbeit nachzudenken, oder, die Fe- der in der Hand, eine Tafel vor mir habe, deren Bedeutung ich in Worte faſſen moͤchte, wenn ich alsdann mich den Gedanken uͤberlaſſen darf: „Es iſt doch fuͤr manchen Leſer mehr als bloß Zeitkuͤrzung! Zeitkuͤrzung mag’s fuͤr hun- „derte ſeyn, (es iſt immer gut, wenn dieſen hunderten die Zeit kurz wird; wer weiß, was die Lan- „geweile fuͤr ſchlimme Folgen fuͤr ſie haben wuͤrde? ..) wenn’s fuͤr zehen Stoff zum Nachdenken, „zum Empfinden, und Handeln wird? Wenn unter zehen Einer ſich ſeines Daſeyns und ſeiner „Menſchheit innig erfreut; Einer von zehen neu empfindet — — wie wahrhaft in allen ſeinen „Werken der iſt, aus dem, und durch den alle Dinge ſind? Neu empfindet, daß auch das Geringſte A 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/19>, abgerufen am 24.11.2024.