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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Einleitung.
mitfühlender, mitfortstrebender Freund, eine zartfühlende, edle schwesterliche Freundinn ohne An-
maßung, Messung oder Hervordringung ihrer selbst -- an der Seite -- Jn solchen Augenblicken,
oder in denen seltnern der schlaflosen Mitternacht, wo wir erwachend an der sanften edeln Gattinn
Seite, die dämmernde Lampe, oder herrlicher, das zaubernde Mondlicht das schlafende Antlitz an-
leuchten, -- wir Knaben und Töchterchen, Fleisch von unserm Fleisch, und Gebein von unsern
Gebeinen, Bett an Bette -- mit überm Haupt geworfnen entblößtem Arme rosenröthlich und süß-
träumend, da liegen sehen, und das sanfte Concert des hörbaren sorglosen Athemholens, unsere
Brust mit Ahndungen umhauchet; ach -- in den seltnen seligen Augenblicken, wo Abschiedneh-
mend nach durchwachter, durchschwatzter, durchweinter Nacht -- ein Geliebter, oder Bruder, und
Freund -- im Lichte des Mondes stehn ... ihr Schatten auf dem Boden der Gasse vorm vorüber-
fliegenden Wölkchen verschwindet, wieder hervor kömmt -- -- wir Hand in Hand stehn, uns an-
sehn, niedersehn, schweigen, gen Himmel sehn -- "Jtzt noch da -- in meiner Hand noch, und
"Morgen -- fern schon, und Jahre nicht mehr! vielleicht nicht mehr hienieden" -- -- Diese Ge-
danken mit den tiefern zusammen fließen: "Wir sind -- ... wie wurden wir? wie kommen wir
"zusammen -- wir sind ... werden seyn, zusammen seyn?" -- Jeder Herzschlag gleichsam zehen-
tausendfach an den Gränzen der herrlich gezeichneten Bildung vielbedeutend wiederholt, der Blick
von der Wölbung des Hauptes durch alle Gewebe, Labyrinthe, Knochen, Adern, Fibern, Ner-
ven bis zu den Fersen niederwallt, in allen den Einen allbeseelenden Geist sieht .... der uns kennt,
uns liebt, fühlt, umfaßt; den wir kennen, lieben, umfassen; der sich in dem unsrigen, wie wir uns
in dem seinigen, erspiegelt -- ach, Gedank' auf Gedanke stürzt -- und sich immer verzögert der
letzte, letzte Händedruck, der letzte Kuß auf die Stirn, die Backen, den Mund -- ach in diesen
menschlichsten Augenblicken, deren jeder uns mehr Gedanken, Wünsche, Freuden, Ahndungen,
Hoffnungen -- zuführt, als oft ganze Tage und Wochen -- in diesen Augenblicken, wo der Mensch
seine Menschheit fühlt; seinen Namen -- wie sein Gewand vergißt -- -- sich der Menschheit ab-
sichtlos freut; --

Jn solchen Augenblicken -- sollte man Menschen zeichnen und über den Menschen schreiben;
allein, wer mag's dann? -- und nachher, wer kann's? Wem ekelt's nicht, den Nachklang sei-
ner reinsten, edelsten Wahrheitsgefühle, -- in Linien von Dinte oder Bley zu formen? -- Oder

wer's
A 2

Einleitung.
mitfuͤhlender, mitfortſtrebender Freund, eine zartfuͤhlende, edle ſchweſterliche Freundinn ohne An-
maßung, Meſſung oder Hervordringung ihrer ſelbſt — an der Seite — Jn ſolchen Augenblicken,
oder in denen ſeltnern der ſchlafloſen Mitternacht, wo wir erwachend an der ſanften edeln Gattinn
Seite, die daͤmmernde Lampe, oder herrlicher, das zaubernde Mondlicht das ſchlafende Antlitz an-
leuchten, — wir Knaben und Toͤchterchen, Fleiſch von unſerm Fleiſch, und Gebein von unſern
Gebeinen, Bett an Bette — mit uͤberm Haupt geworfnen entbloͤßtem Arme roſenroͤthlich und ſuͤß-
traͤumend, da liegen ſehen, und das ſanfte Concert des hoͤrbaren ſorgloſen Athemholens, unſere
Bruſt mit Ahndungen umhauchet; ach — in den ſeltnen ſeligen Augenblicken, wo Abſchiedneh-
mend nach durchwachter, durchſchwatzter, durchweinter Nacht — ein Geliebter, oder Bruder, und
Freund — im Lichte des Mondes ſtehn ... ihr Schatten auf dem Boden der Gaſſe vorm voruͤber-
fliegenden Woͤlkchen verſchwindet, wieder hervor koͤmmt — — wir Hand in Hand ſtehn, uns an-
ſehn, niederſehn, ſchweigen, gen Himmel ſehn — „Jtzt noch da — in meiner Hand noch, und
„Morgen — fern ſchon, und Jahre nicht mehr! vielleicht nicht mehr hienieden“ — — Dieſe Ge-
danken mit den tiefern zuſammen fließen: „Wir ſind — ... wie wurden wir? wie kommen wir
„zuſammen — wir ſind ... werden ſeyn, zuſammen ſeyn?“ — Jeder Herzſchlag gleichſam zehen-
tauſendfach an den Graͤnzen der herrlich gezeichneten Bildung vielbedeutend wiederholt, der Blick
von der Woͤlbung des Hauptes durch alle Gewebe, Labyrinthe, Knochen, Adern, Fibern, Ner-
ven bis zu den Ferſen niederwallt, in allen den Einen allbeſeelenden Geiſt ſieht .... der uns kennt,
uns liebt, fuͤhlt, umfaßt; den wir kennen, lieben, umfaſſen; der ſich in dem unſrigen, wie wir uns
in dem ſeinigen, erſpiegelt — ach, Gedank’ auf Gedanke ſtuͤrzt — und ſich immer verzoͤgert der
letzte, letzte Haͤndedruck, der letzte Kuß auf die Stirn, die Backen, den Mund — ach in dieſen
menſchlichſten Augenblicken, deren jeder uns mehr Gedanken, Wuͤnſche, Freuden, Ahndungen,
Hoffnungen — zufuͤhrt, als oft ganze Tage und Wochen — in dieſen Augenblicken, wo der Menſch
ſeine Menſchheit fuͤhlt; ſeinen Namen — wie ſein Gewand vergißt — — ſich der Menſchheit ab-
ſichtlos freut; —

Jn ſolchen Augenblicken — ſollte man Menſchen zeichnen und uͤber den Menſchen ſchreiben;
allein, wer mag’s dann? — und nachher, wer kann’s? Wem ekelt’s nicht, den Nachklang ſei-
ner reinſten, edelſten Wahrheitsgefuͤhle, — in Linien von Dinte oder Bley zu formen? — Oder

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/17>, abgerufen am 29.03.2024.