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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrisse sehen oder nicht sehen könne.
"ist Schwäche!" -- Dadurch aber würde die positife Zuverlässigkeit der Bedeutung dieses
Zugs an sich so wenig bestritten werden können, als die Gültigkeit einer realen, guten Aktiv-
schuld dadurch aufgehoben wird, daß ich eine eben so große, oder größere Passivschuld habe. Die
guten und schlechten Züge verhalten sich gegen einander in gewissem Sinne, wie Aktiv- und
Passivschulden. Beyde können an sich höchst gültig seyn, -- obgleich die ersten durch die letztern
verschlungen und aufgehoben werden.

4. Die Silhouette eines der trefflichsten Männer Deutschlands, dessen Gelehrsamkeit
unermeßlich, dessen Verstand durchaus lichthelle, dessen Jmagination unerschöpflich reich, dessen
Geschmack unbeflecklich rein, dessen Herz unbeschreiblich edel -- dessen Charakter äusserst sanft
ist .... unfehlbar ist der Mund verschnitten, und das schadet dem entscheidenden Eindrucke
des Ganzen sehr. Jch vermuthe, daß es von der Stellung des Lichts beym Schattenziehen
herrühre, daß der untere Theil des Gesichtes etwas zu gedehnt scheint, wodurch der Ausdruck
einer zu leicht beweglichen Schwäche bewürkt wird. Die Nase, verglichen mit den andern
Silhouetten, zeigt meines Bedünkens vorzüglichen Reichthum der Einbildungskraft. Der
Umriß der Stirne zeigt weniger Stärke, als Reichthum; zeigt mehr Feinheit und Deut-
lichkeit
des Denkens, mehr Empfänglichkeit, als vordringende Schöpfungskraft. Die
Höhe des Schädels scheint, wie ich zu vermuthen Ursache habe, reiches Gedächtniß, der Hin-
tertheil des Kopfes -- zarte Empfindsamkeit auszudrücken.

Auch hier wieder unsre Proportion der Höhe und Breite des Gesichtes! So verschie-
den diese Gesichter sind, scheinen sie mir dennoch in etwas übereinzukommen. Sie sind im
Ganzen genommen perpendikularer, als die auf der vorhergehenden Tafel; das heißt, die Stirnen

stehen
O 3

Schattenriſſe ſehen oder nicht ſehen koͤnne.
„iſt Schwaͤche!“ — Dadurch aber wuͤrde die poſitife Zuverlaͤſſigkeit der Bedeutung dieſes
Zugs an ſich ſo wenig beſtritten werden koͤnnen, als die Guͤltigkeit einer realen, guten Aktiv-
ſchuld dadurch aufgehoben wird, daß ich eine eben ſo große, oder groͤßere Paſſivſchuld habe. Die
guten und ſchlechten Zuͤge verhalten ſich gegen einander in gewiſſem Sinne, wie Aktiv- und
Paſſivſchulden. Beyde koͤnnen an ſich hoͤchſt guͤltig ſeyn, — obgleich die erſten durch die letztern
verſchlungen und aufgehoben werden.

4. Die Silhouette eines der trefflichſten Maͤnner Deutſchlands, deſſen Gelehrſamkeit
unermeßlich, deſſen Verſtand durchaus lichthelle, deſſen Jmagination unerſchoͤpflich reich, deſſen
Geſchmack unbeflecklich rein, deſſen Herz unbeſchreiblich edel — deſſen Charakter aͤuſſerſt ſanft
iſt .... unfehlbar iſt der Mund verſchnitten, und das ſchadet dem entſcheidenden Eindrucke
des Ganzen ſehr. Jch vermuthe, daß es von der Stellung des Lichts beym Schattenziehen
herruͤhre, daß der untere Theil des Geſichtes etwas zu gedehnt ſcheint, wodurch der Ausdruck
einer zu leicht beweglichen Schwaͤche bewuͤrkt wird. Die Naſe, verglichen mit den andern
Silhouetten, zeigt meines Beduͤnkens vorzuͤglichen Reichthum der Einbildungskraft. Der
Umriß der Stirne zeigt weniger Staͤrke, als Reichthum; zeigt mehr Feinheit und Deut-
lichkeit
des Denkens, mehr Empfaͤnglichkeit, als vordringende Schoͤpfungskraft. Die
Hoͤhe des Schaͤdels ſcheint, wie ich zu vermuthen Urſache habe, reiches Gedaͤchtniß, der Hin-
tertheil des Kopfes — zarte Empfindſamkeit auszudruͤcken.

Auch hier wieder unſre Proportion der Hoͤhe und Breite des Geſichtes! So verſchie-
den dieſe Geſichter ſind, ſcheinen ſie mir dennoch in etwas uͤbereinzukommen. Sie ſind im
Ganzen genommen perpendikularer, als die auf der vorhergehenden Tafel; das heißt, die Stirnen

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[109/0149] Schattenriſſe ſehen oder nicht ſehen koͤnne. „iſt Schwaͤche!“ — Dadurch aber wuͤrde die poſitife Zuverlaͤſſigkeit der Bedeutung dieſes Zugs an ſich ſo wenig beſtritten werden koͤnnen, als die Guͤltigkeit einer realen, guten Aktiv- ſchuld dadurch aufgehoben wird, daß ich eine eben ſo große, oder groͤßere Paſſivſchuld habe. Die guten und ſchlechten Zuͤge verhalten ſich gegen einander in gewiſſem Sinne, wie Aktiv- und Paſſivſchulden. Beyde koͤnnen an ſich hoͤchſt guͤltig ſeyn, — obgleich die erſten durch die letztern verſchlungen und aufgehoben werden. 4. Die Silhouette eines der trefflichſten Maͤnner Deutſchlands, deſſen Gelehrſamkeit unermeßlich, deſſen Verſtand durchaus lichthelle, deſſen Jmagination unerſchoͤpflich reich, deſſen Geſchmack unbeflecklich rein, deſſen Herz unbeſchreiblich edel — deſſen Charakter aͤuſſerſt ſanft iſt .... unfehlbar iſt der Mund verſchnitten, und das ſchadet dem entſcheidenden Eindrucke des Ganzen ſehr. Jch vermuthe, daß es von der Stellung des Lichts beym Schattenziehen herruͤhre, daß der untere Theil des Geſichtes etwas zu gedehnt ſcheint, wodurch der Ausdruck einer zu leicht beweglichen Schwaͤche bewuͤrkt wird. Die Naſe, verglichen mit den andern Silhouetten, zeigt meines Beduͤnkens vorzuͤglichen Reichthum der Einbildungskraft. Der Umriß der Stirne zeigt weniger Staͤrke, als Reichthum; zeigt mehr Feinheit und Deut- lichkeit des Denkens, mehr Empfaͤnglichkeit, als vordringende Schoͤpfungskraft. Die Hoͤhe des Schaͤdels ſcheint, wie ich zu vermuthen Urſache habe, reiches Gedaͤchtniß, der Hin- tertheil des Kopfes — zarte Empfindſamkeit auszudruͤcken. Auch hier wieder unſre Proportion der Hoͤhe und Breite des Geſichtes! So verſchie- den dieſe Geſichter ſind, ſcheinen ſie mir dennoch in etwas uͤbereinzukommen. Sie ſind im Ganzen genommen perpendikularer, als die auf der vorhergehenden Tafel; das heißt, die Stirnen ſtehen O 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/149>, abgerufen am 28.04.2024.