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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XII. Fragment. Was man aus dem bloßen
Sechste Tafel.
Vier männliche Silhouetten in Ovalen.

1. Wir haben dieses Profil schon am Ende des zweyten Fragmentes kahl gesehen. Hier ist's
mehr gewendet. Wir sehen aber auch hier den stillen, bedächtlichen Forscher; den edeln, feinen
Denker! dieß zeigt vornehmlich die Stirn, und der untere Theil des Gesichtes von der Unterlippe
an. Die Nase allein scheint Witz, und die Oberlippe körperliche Schüchternheit anzuzeigen.

2. Mag um die Lippen herum um ein Haar verzeichnet seyn. Die Stirne hat viel Den-
kenskraft -- der Eindruck des Ganzen ist eines gefühlvollen, feinen, verschloßnen Forschers, voll
Tiefsinn und Klugheit.

3. Die Stirn des dritten ist beynahe die Stirn des Genies. Aber hier kömmt's auf ein
Haar mehr oder minder an. Das Ganze macht den Eindruck von einem äusserst originellen, gera-
den, offnen, kraftvollen Menschen. Von der Unterlippe bis zur Mitte des Kinns hat dieß
Profil einige Aehnlichkeit mit dem ersten; nur mehr Schärfe und Bestimmtes. -- Diesen
Abschnitt des Oberkinns, wie er daneben ausgezeichnet ist, hab' ich schon sehr oft an äusserst
verständigen, kraftvollen Menschen wahrgenommen; und noch nie an einem natürlichen Dumm-
kopfe, wohl an einigen Schwachen, zu beobachten Gelegenheit gehabt. Jch halte also diesen
Zug für ein positifes Zeichen von Denkenskraft, (dessen Ursachen zu erforschen lange noch
nicht Zeit ist.) Nun vermuth' ich, dieser Zug werde sich auch an schwachen, mittelmäßigen
Menschen sehen lassen. -- Aber ich sag' es voraus: an solchen Gesichtern werdet ihr sicherlich --
Züge finden, die diesem widersprechen; von denen Euch Euer eigen Gefühl sagen wird: "hier

ist
XII. Fragment. Was man aus dem bloßen
Sechste Tafel.
Vier maͤnnliche Silhouetten in Ovalen.

1. Wir haben dieſes Profil ſchon am Ende des zweyten Fragmentes kahl geſehen. Hier iſt’s
mehr gewendet. Wir ſehen aber auch hier den ſtillen, bedaͤchtlichen Forſcher; den edeln, feinen
Denker! dieß zeigt vornehmlich die Stirn, und der untere Theil des Geſichtes von der Unterlippe
an. Die Naſe allein ſcheint Witz, und die Oberlippe koͤrperliche Schuͤchternheit anzuzeigen.

2. Mag um die Lippen herum um ein Haar verzeichnet ſeyn. Die Stirne hat viel Den-
kenskraft — der Eindruck des Ganzen iſt eines gefuͤhlvollen, feinen, verſchloßnen Forſchers, voll
Tiefſinn und Klugheit.

3. Die Stirn des dritten iſt beynahe die Stirn des Genies. Aber hier koͤmmt’s auf ein
Haar mehr oder minder an. Das Ganze macht den Eindruck von einem aͤuſſerſt originellen, gera-
den, offnen, kraftvollen Menſchen. Von der Unterlippe bis zur Mitte des Kinns hat dieß
Profil einige Aehnlichkeit mit dem erſten; nur mehr Schaͤrfe und Beſtimmtes. — Dieſen
Abſchnitt des Oberkinns, wie er daneben ausgezeichnet iſt, hab’ ich ſchon ſehr oft an aͤuſſerſt
verſtaͤndigen, kraftvollen Menſchen wahrgenommen; und noch nie an einem natuͤrlichen Dumm-
kopfe, wohl an einigen Schwachen, zu beobachten Gelegenheit gehabt. Jch halte alſo dieſen
Zug fuͤr ein poſitifes Zeichen von Denkenskraft, (deſſen Urſachen zu erforſchen lange noch
nicht Zeit iſt.) Nun vermuth’ ich, dieſer Zug werde ſich auch an ſchwachen, mittelmaͤßigen
Menſchen ſehen laſſen. — Aber ich ſag’ es voraus: an ſolchen Geſichtern werdet ihr ſicherlich —
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[108/0146] XII. Fragment. Was man aus dem bloßen Sechste Tafel. Vier maͤnnliche Silhouetten in Ovalen. 1. Wir haben dieſes Profil ſchon am Ende des zweyten Fragmentes kahl geſehen. Hier iſt’s mehr gewendet. Wir ſehen aber auch hier den ſtillen, bedaͤchtlichen Forſcher; den edeln, feinen Denker! dieß zeigt vornehmlich die Stirn, und der untere Theil des Geſichtes von der Unterlippe an. Die Naſe allein ſcheint Witz, und die Oberlippe koͤrperliche Schuͤchternheit anzuzeigen. 2. Mag um die Lippen herum um ein Haar verzeichnet ſeyn. Die Stirne hat viel Den- kenskraft — der Eindruck des Ganzen iſt eines gefuͤhlvollen, feinen, verſchloßnen Forſchers, voll Tiefſinn und Klugheit. 3. Die Stirn des dritten iſt beynahe die Stirn des Genies. Aber hier koͤmmt’s auf ein Haar mehr oder minder an. Das Ganze macht den Eindruck von einem aͤuſſerſt originellen, gera- den, offnen, kraftvollen Menſchen. Von der Unterlippe bis zur Mitte des Kinns hat dieß Profil einige Aehnlichkeit mit dem erſten; nur mehr Schaͤrfe und Beſtimmtes. — Dieſen Abſchnitt des Oberkinns, wie er daneben ausgezeichnet iſt, hab’ ich ſchon ſehr oft an aͤuſſerſt verſtaͤndigen, kraftvollen Menſchen wahrgenommen; und noch nie an einem natuͤrlichen Dumm- kopfe, wohl an einigen Schwachen, zu beobachten Gelegenheit gehabt. Jch halte alſo dieſen Zug fuͤr ein poſitifes Zeichen von Denkenskraft, (deſſen Urſachen zu erforſchen lange noch nicht Zeit iſt.) Nun vermuth’ ich, dieſer Zug werde ſich auch an ſchwachen, mittelmaͤßigen Menſchen ſehen laſſen. — Aber ich ſag’ es voraus: an ſolchen Geſichtern werdet ihr ſicherlich — Zuͤge finden, die dieſem widerſprechen; von denen Euch Euer eigen Gefuͤhl ſagen wird: „hier iſt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/146>, abgerufen am 24.11.2024.