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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. Von der Harmonie
"es -- sondern es ist so die allgemeine Einrichtung und Natur der Dinge -- daß, wo die
"höchste moralische Vollkommenheit ist, die höchste physische Unvollkommenheit zum Vorschein
"komme, daß der tugendhafteste Mensch der häßlichste; der erhabenste, edelste, großmüthigste
"Wohlthäter des menschlichen Geschlechts -- das ekelhafteste Geschöpf sey -- daß Gott der
"Tugend alle Schönheit versage, um sie ja nicht zu empfehlen, daß die ganze Natur darauf
"eingerichtet sey, das, was der Gottheit das Liebste, und an sich das Liebenswürdigste ist, gleich-
"sam mit dem Siegel seines Mißfallens zu stempeln." -- Wer, Brüder, Freunde der Tu-
gend, Mitanbeter der höchsten Weisheit, die lauter Güte ist -- wer kann diesen -- beynah'
hätt' ich gesagt, gotteslästerlichen Gedanken ertragen? --

Setzet den ähnlichen Fall mit dem Verhältniß der Erkenntnißfähigkeiten zu der kör-
perlichen Feinheit. Könnt ihr's schicklich, der höchsten Weisheit angemessen finden -- in dem
Maße Plumpheit zum Vorschein kommen zu lassen, in welchem die innere Verstandskraft da
ist, und sich entwickelt? Saget, was ihr wollt, nimmermehr könnt ihr es -- und wie un-
endlich viel weniger liegt doch an dieser, als an jener Harmonie? Wie unendlich viel mehr ist
dem Urheber unserer Natur um die Entwicklung und Vervollkommnung des moralischen Theils
unserer Natur zu thun, als des intellectuellen? --

Weiter -- wer wird es schicklich, und der höchsten Weisheit angemessen finden kön-
nen, daß sie dem schwächsten Körper die Form und den Schein des stärksten, und dem stärk-
sten die Form und den Schein des schwächsten gebe? (Jch rede nicht von Zufälligkeiten und
Ausnahmen, ich rede von durchgängig allgemeiner Einrichtung der Natur --) -- Und doch
wäre diese Vorstellung, diese unwürdige Spielsucht noch Weisheit und Würde -- in Verglei-
chung mit dem Betragen -- zwischen moralischer und physischer Schönheit eine sichtbare Dis-
harmonie in der ganzen Natur zu veranstalten.

Doch ich will es zugeben: dergleichen metaphysische Präsumtionen, so einleuchtend sie
scheinen, und so viel sie wenigstens bey gewissen Leuten gelten sollten, sind nicht beweisend ge-
nug. Es kommt auf die Wirklichkeit der Sache in der Natur, mithin auf sichere Beobach-
tungen und Erfahrungen an.

Jch

IX. Fragment. Von der Harmonie
„es — ſondern es iſt ſo die allgemeine Einrichtung und Natur der Dinge — daß, wo die
„hoͤchſte moraliſche Vollkommenheit iſt, die hoͤchſte phyſiſche Unvollkommenheit zum Vorſchein
„komme, daß der tugendhafteſte Menſch der haͤßlichſte; der erhabenſte, edelſte, großmuͤthigſte
„Wohlthaͤter des menſchlichen Geſchlechts — das ekelhafteſte Geſchoͤpf ſey — daß Gott der
„Tugend alle Schoͤnheit verſage, um ſie ja nicht zu empfehlen, daß die ganze Natur darauf
„eingerichtet ſey, das, was der Gottheit das Liebſte, und an ſich das Liebenswuͤrdigſte iſt, gleich-
„ſam mit dem Siegel ſeines Mißfallens zu ſtempeln.“ — Wer, Bruͤder, Freunde der Tu-
gend, Mitanbeter der hoͤchſten Weisheit, die lauter Guͤte iſt — wer kann dieſen — beynah'
haͤtt' ich geſagt, gotteslaͤſterlichen Gedanken ertragen? —

Setzet den aͤhnlichen Fall mit dem Verhaͤltniß der Erkenntnißfaͤhigkeiten zu der koͤr-
perlichen Feinheit. Koͤnnt ihr's ſchicklich, der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden — in dem
Maße Plumpheit zum Vorſchein kommen zu laſſen, in welchem die innere Verſtandskraft da
iſt, und ſich entwickelt? Saget, was ihr wollt, nimmermehr koͤnnt ihr es — und wie un-
endlich viel weniger liegt doch an dieſer, als an jener Harmonie? Wie unendlich viel mehr iſt
dem Urheber unſerer Natur um die Entwicklung und Vervollkommnung des moraliſchen Theils
unſerer Natur zu thun, als des intellectuellen? —

Weiter — wer wird es ſchicklich, und der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden koͤn-
nen, daß ſie dem ſchwaͤchſten Koͤrper die Form und den Schein des ſtaͤrkſten, und dem ſtaͤrk-
ſten die Form und den Schein des ſchwaͤchſten gebe? (Jch rede nicht von Zufaͤlligkeiten und
Ausnahmen, ich rede von durchgaͤngig allgemeiner Einrichtung der Natur —) — Und doch
waͤre dieſe Vorſtellung, dieſe unwuͤrdige Spielſucht noch Weisheit und Wuͤrde — in Verglei-
chung mit dem Betragen — zwiſchen moraliſcher und phyſiſcher Schoͤnheit eine ſichtbare Dis-
harmonie in der ganzen Natur zu veranſtalten.

Doch ich will es zugeben: dergleichen metaphyſiſche Praͤſumtionen, ſo einleuchtend ſie
ſcheinen, und ſo viel ſie wenigſtens bey gewiſſen Leuten gelten ſollten, ſind nicht beweiſend ge-
nug. Es kommt auf die Wirklichkeit der Sache in der Natur, mithin auf ſichere Beobach-
tungen und Erfahrungen an.

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[58/0082] IX. Fragment. Von der Harmonie „es — ſondern es iſt ſo die allgemeine Einrichtung und Natur der Dinge — daß, wo die „hoͤchſte moraliſche Vollkommenheit iſt, die hoͤchſte phyſiſche Unvollkommenheit zum Vorſchein „komme, daß der tugendhafteſte Menſch der haͤßlichſte; der erhabenſte, edelſte, großmuͤthigſte „Wohlthaͤter des menſchlichen Geſchlechts — das ekelhafteſte Geſchoͤpf ſey — daß Gott der „Tugend alle Schoͤnheit verſage, um ſie ja nicht zu empfehlen, daß die ganze Natur darauf „eingerichtet ſey, das, was der Gottheit das Liebſte, und an ſich das Liebenswuͤrdigſte iſt, gleich- „ſam mit dem Siegel ſeines Mißfallens zu ſtempeln.“ — Wer, Bruͤder, Freunde der Tu- gend, Mitanbeter der hoͤchſten Weisheit, die lauter Guͤte iſt — wer kann dieſen — beynah' haͤtt' ich geſagt, gotteslaͤſterlichen Gedanken ertragen? — Setzet den aͤhnlichen Fall mit dem Verhaͤltniß der Erkenntnißfaͤhigkeiten zu der koͤr- perlichen Feinheit. Koͤnnt ihr's ſchicklich, der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden — in dem Maße Plumpheit zum Vorſchein kommen zu laſſen, in welchem die innere Verſtandskraft da iſt, und ſich entwickelt? Saget, was ihr wollt, nimmermehr koͤnnt ihr es — und wie un- endlich viel weniger liegt doch an dieſer, als an jener Harmonie? Wie unendlich viel mehr iſt dem Urheber unſerer Natur um die Entwicklung und Vervollkommnung des moraliſchen Theils unſerer Natur zu thun, als des intellectuellen? — Weiter — wer wird es ſchicklich, und der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden koͤn- nen, daß ſie dem ſchwaͤchſten Koͤrper die Form und den Schein des ſtaͤrkſten, und dem ſtaͤrk- ſten die Form und den Schein des ſchwaͤchſten gebe? (Jch rede nicht von Zufaͤlligkeiten und Ausnahmen, ich rede von durchgaͤngig allgemeiner Einrichtung der Natur —) — Und doch waͤre dieſe Vorſtellung, dieſe unwuͤrdige Spielſucht noch Weisheit und Wuͤrde — in Verglei- chung mit dem Betragen — zwiſchen moraliſcher und phyſiſcher Schoͤnheit eine ſichtbare Dis- harmonie in der ganzen Natur zu veranſtalten. Doch ich will es zugeben: dergleichen metaphyſiſche Praͤſumtionen, ſo einleuchtend ſie ſcheinen, und ſo viel ſie wenigſtens bey gewiſſen Leuten gelten ſollten, ſind nicht beweiſend ge- nug. Es kommt auf die Wirklichkeit der Sache in der Natur, mithin auf ſichere Beobach- tungen und Erfahrungen an. Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/82>, abgerufen am 21.11.2024.