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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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VII. Fragment.
zur Sache? Er urtheilt. Er urtheilt nicht ganz, aber doch zum Theil von dem Aeußern des
Menschen. Er macht daraus einen Schluß auf sein Jnneres.

Der Bauer, der durch seine Felder, oder durch seinen Weinberg geht, bestimmt seine
Hoffnung, wornach? Nach der Farbe, Größe, Stellung, Aeußerlichkeit -- nach der Phy-
siognomie des blühenden Saamens, der Halmen, der Aehren, des Weinstocks, der Reben:
"Diese Kornähre ist krank, dieß Holz gesund. Dieß wird gedeyhn, jenes nicht," sagt er auf
den ersten oder zweyten Blick; sagt bisweilen -- "wie schön diese Weinrebe scheine -- sie wird
"wenig Trauben bringen" -- Warum? Er bemerkt, wie der Physiognomist am schönen leeren
Menschengesicht, -- Leerheit des Triebes -- Und wie? Abermal an irgend einer Aeußerlichkeit?

Der Arzt, sieht er oft nicht mehr aus der Physiognomie des Kranken, als aus allen
Nachrichten, die man ihm von seinem Patienten bringt? Wie erstaunlich weit es hierinn gewisse
Aerzte bringen -- kann Zimmermann unter manchen lebenden, und unter vielen verstorbnen
Kämpf, dessen Sohn von den Temperamenten geschrieben hat, Beyspiel seyn.

Der Mahler. Doch von dem will ich nicht reden, die Sache redet, redet allzubeschä-
mend für den bey manchem eben so kindischen als stolzen Eigensinn der angeblichen Ungläubigen
an die Physiognomie. --

Der Reisende, der Menschenfreund, der Menschenfeind, der Verliebte -- und
wer nicht? Alle handeln nach ihrem wahren oder falschen, klaren oder konfusen physiognomischen
Urtheil und Gefühle. Dieß Urtheil, dieß Gefühl erweckt Mitleiden oder Schadenfreude, Lie-
be oder Haß, Mißtrauen oder Zuversicht, Zurückhaltung, oder Offenherzigkeit.

Und wird der Himmel nicht täglich nach seiner Physiognomie beurtheilt?

Keine Speise, kein Glas Wein oder Bier, keine Schale Koffee oder Thee kömmt auf
unsern Tisch, von deren Physiognomie, deren Aeußerlichkeit, wir nicht sogleich auf ihre innere
Güte oder Schlechtigkeit einen Schluß machen.

Man bringt uns ein Körbgen mit Birnen oder Aepfeln; warum suchen wir aus?
Warum wählen wir die einen, und lassen die andern liegen? Warum ruft uns, wenn wir
aus Bescheidenheit ein schlechteres Stück wählen, die gefällige Höflichkeit zu: "Lassen Sie
"dieses liegen! Nehmen Sie das bessere!" Warum? Um der Physiognomie willen!

Jst

VII. Fragment.
zur Sache? Er urtheilt. Er urtheilt nicht ganz, aber doch zum Theil von dem Aeußern des
Menſchen. Er macht daraus einen Schluß auf ſein Jnneres.

Der Bauer, der durch ſeine Felder, oder durch ſeinen Weinberg geht, beſtimmt ſeine
Hoffnung, wornach? Nach der Farbe, Groͤße, Stellung, Aeußerlichkeit — nach der Phy-
ſiognomie des bluͤhenden Saamens, der Halmen, der Aehren, des Weinſtocks, der Reben:
„Dieſe Kornaͤhre iſt krank, dieß Holz geſund. Dieß wird gedeyhn, jenes nicht,“ ſagt er auf
den erſten oder zweyten Blick; ſagt bisweilen — „wie ſchoͤn dieſe Weinrebe ſcheine — ſie wird
„wenig Trauben bringen“ — Warum? Er bemerkt, wie der Phyſiognomiſt am ſchoͤnen leeren
Menſchengeſicht, — Leerheit des Triebes — Und wie? Abermal an irgend einer Aeußerlichkeit?

Der Arzt, ſieht er oft nicht mehr aus der Phyſiognomie des Kranken, als aus allen
Nachrichten, die man ihm von ſeinem Patienten bringt? Wie erſtaunlich weit es hierinn gewiſſe
Aerzte bringen — kann Zimmermann unter manchen lebenden, und unter vielen verſtorbnen
Kaͤmpf, deſſen Sohn von den Temperamenten geſchrieben hat, Beyſpiel ſeyn.

Der Mahler. Doch von dem will ich nicht reden, die Sache redet, redet allzubeſchaͤ-
mend fuͤr den bey manchem eben ſo kindiſchen als ſtolzen Eigenſinn der angeblichen Unglaͤubigen
an die Phyſiognomie. —

Der Reiſende, der Menſchenfreund, der Menſchenfeind, der Verliebte — und
wer nicht? Alle handeln nach ihrem wahren oder falſchen, klaren oder konfuſen phyſiognomiſchen
Urtheil und Gefuͤhle. Dieß Urtheil, dieß Gefuͤhl erweckt Mitleiden oder Schadenfreude, Lie-
be oder Haß, Mißtrauen oder Zuverſicht, Zuruͤckhaltung, oder Offenherzigkeit.

Und wird der Himmel nicht taͤglich nach ſeiner Phyſiognomie beurtheilt?

Keine Speiſe, kein Glas Wein oder Bier, keine Schale Koffee oder Thee koͤmmt auf
unſern Tiſch, von deren Phyſiognomie, deren Aeußerlichkeit, wir nicht ſogleich auf ihre innere
Guͤte oder Schlechtigkeit einen Schluß machen.

Man bringt uns ein Koͤrbgen mit Birnen oder Aepfeln; warum ſuchen wir aus?
Warum waͤhlen wir die einen, und laſſen die andern liegen? Warum ruft uns, wenn wir
aus Beſcheidenheit ein ſchlechteres Stuͤck waͤhlen, die gefaͤllige Hoͤflichkeit zu: „Laſſen Sie
„dieſes liegen! Nehmen Sie das beſſere!“ Warum? Um der Phyſiognomie willen!

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[48/0072] VII. Fragment. zur Sache? Er urtheilt. Er urtheilt nicht ganz, aber doch zum Theil von dem Aeußern des Menſchen. Er macht daraus einen Schluß auf ſein Jnneres. Der Bauer, der durch ſeine Felder, oder durch ſeinen Weinberg geht, beſtimmt ſeine Hoffnung, wornach? Nach der Farbe, Groͤße, Stellung, Aeußerlichkeit — nach der Phy- ſiognomie des bluͤhenden Saamens, der Halmen, der Aehren, des Weinſtocks, der Reben: „Dieſe Kornaͤhre iſt krank, dieß Holz geſund. Dieß wird gedeyhn, jenes nicht,“ ſagt er auf den erſten oder zweyten Blick; ſagt bisweilen — „wie ſchoͤn dieſe Weinrebe ſcheine — ſie wird „wenig Trauben bringen“ — Warum? Er bemerkt, wie der Phyſiognomiſt am ſchoͤnen leeren Menſchengeſicht, — Leerheit des Triebes — Und wie? Abermal an irgend einer Aeußerlichkeit? Der Arzt, ſieht er oft nicht mehr aus der Phyſiognomie des Kranken, als aus allen Nachrichten, die man ihm von ſeinem Patienten bringt? Wie erſtaunlich weit es hierinn gewiſſe Aerzte bringen — kann Zimmermann unter manchen lebenden, und unter vielen verſtorbnen Kaͤmpf, deſſen Sohn von den Temperamenten geſchrieben hat, Beyſpiel ſeyn. Der Mahler. Doch von dem will ich nicht reden, die Sache redet, redet allzubeſchaͤ- mend fuͤr den bey manchem eben ſo kindiſchen als ſtolzen Eigenſinn der angeblichen Unglaͤubigen an die Phyſiognomie. — Der Reiſende, der Menſchenfreund, der Menſchenfeind, der Verliebte — und wer nicht? Alle handeln nach ihrem wahren oder falſchen, klaren oder konfuſen phyſiognomiſchen Urtheil und Gefuͤhle. Dieß Urtheil, dieß Gefuͤhl erweckt Mitleiden oder Schadenfreude, Lie- be oder Haß, Mißtrauen oder Zuverſicht, Zuruͤckhaltung, oder Offenherzigkeit. Und wird der Himmel nicht taͤglich nach ſeiner Phyſiognomie beurtheilt? Keine Speiſe, kein Glas Wein oder Bier, keine Schale Koffee oder Thee koͤmmt auf unſern Tiſch, von deren Phyſiognomie, deren Aeußerlichkeit, wir nicht ſogleich auf ihre innere Guͤte oder Schlechtigkeit einen Schluß machen. Man bringt uns ein Koͤrbgen mit Birnen oder Aepfeln; warum ſuchen wir aus? Warum waͤhlen wir die einen, und laſſen die andern liegen? Warum ruft uns, wenn wir aus Beſcheidenheit ein ſchlechteres Stuͤck waͤhlen, die gefaͤllige Hoͤflichkeit zu: „Laſſen Sie „dieſes liegen! Nehmen Sie das beſſere!“ Warum? Um der Phyſiognomie willen! Jſt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/72>, abgerufen am 21.11.2024.