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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten überhaupt.

Jede Art von Vollkommenheit ist nur Eine, aber die Abweichungen davon sind
unzählig.
So wie nur Eine Wahrheit ist, aber die ihr entgegenstehenden Jrrthümer sind un-
zählig. Tausend Jrrthümer sind leichter gesagt, als Eine Wahrheit.

Ein mittelmäßiger Zeichner entwirft in einem Tage hundert Gesichter von Thoren und
Bösewichter, und der geschickteste zeichnet in dieser Zeit vielleicht kaum Ein rechtschaffen weises,
edles, oder erhabenes Gesicht.

Es erfordert also bey der Menge von Unvollkommenheiten, mit denen wir umringt sind,
und bey der Leichtigkeit, womit man diese herzeichnen, beschreiben und entwickeln kann, -- und
bey dem offnen Felde, das sich dem Witze zu den lustigsten Bemerkungen und unterhaltendsten Ein-
fällen darbeut; es erfordert, sage ich, anfangs viel Selbstverläugnung, oder ein großes Maas
brüderlicher Menschenliebe -- das stolze Verlangen, Unvollkommenheiten an andern zu bemerken,
und darüber zu triumphiren -- bey sich zu unterdrücken und im Zaum zu halten, und vornehm-
lich nur das viel seltnere Schöne, Edle, Erhabene, Vollkommene, das um so viel schwerer
wahrzunehmen und zu beschreiben ist, zum näheren und ersten Gegenstande seiner Beobachtungen
und Beschreibungen zu machen. -- Aber diese Verläugnung führt, je schwerer sie ist, um so
viel größere Belohnung mit sich.

Wer in der Welt Freude genießen und andern Menschen weise Freude machen will, der
geh auf Vollkommenheiten aus, und gewöhne sein Auge, Schönheiten zu suchen und zu finden,
lasse sich den schrecklichen Verfall der schönen menschlichen Natur (die doch ja nur deswegen so tief
gefallen ist, damit sie ihr unerforschlicher Urheber himmelhoch erhebe) nicht abhalten, immerfort
Schönheiten zu suchen, so weit er sie immer suchen kann.

Nichts wird geschickter seyn, seinen Verstand, seine Schauenskraft zu üben und zu schär-
fen, seinen Geschmack zu verfeinern, und sein Herz zu verbessern und zu erweitern. Nichts ist
geschickter den Menschen menschlicher zu machen, als die Entdeckung und Beobach-
tung der Schönheiten und Vollkommenheiten der menschlichen Natur.
Und allent-
halben wo er ist, werden sich seinen offenen Augen Schätze darbieten, die unschätzbar sind --
wenn gleich beynahe niemand ihren Werth kennt, wenn gleich unzählige es sich zur Religion
machen, die menschliche Natur, die doch warlich, so sehr wie alle Geschöpfe Gottes, gut und

unver-
Phys. Fragm. I. Versuch. G
der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.

Jede Art von Vollkommenheit iſt nur Eine, aber die Abweichungen davon ſind
unzaͤhlig.
So wie nur Eine Wahrheit iſt, aber die ihr entgegenſtehenden Jrrthuͤmer ſind un-
zaͤhlig. Tauſend Jrrthuͤmer ſind leichter geſagt, als Eine Wahrheit.

Ein mittelmaͤßiger Zeichner entwirft in einem Tage hundert Geſichter von Thoren und
Boͤſewichter, und der geſchickteſte zeichnet in dieſer Zeit vielleicht kaum Ein rechtſchaffen weiſes,
edles, oder erhabenes Geſicht.

Es erfordert alſo bey der Menge von Unvollkommenheiten, mit denen wir umringt ſind,
und bey der Leichtigkeit, womit man dieſe herzeichnen, beſchreiben und entwickeln kann, — und
bey dem offnen Felde, das ſich dem Witze zu den luſtigſten Bemerkungen und unterhaltendſten Ein-
faͤllen darbeut; es erfordert, ſage ich, anfangs viel Selbſtverlaͤugnung, oder ein großes Maas
bruͤderlicher Menſchenliebe — das ſtolze Verlangen, Unvollkommenheiten an andern zu bemerken,
und daruͤber zu triumphiren — bey ſich zu unterdruͤcken und im Zaum zu halten, und vornehm-
lich nur das viel ſeltnere Schoͤne, Edle, Erhabene, Vollkommene, das um ſo viel ſchwerer
wahrzunehmen und zu beſchreiben iſt, zum naͤheren und erſten Gegenſtande ſeiner Beobachtungen
und Beſchreibungen zu machen. — Aber dieſe Verlaͤugnung fuͤhrt, je ſchwerer ſie iſt, um ſo
viel groͤßere Belohnung mit ſich.

Wer in der Welt Freude genießen und andern Menſchen weiſe Freude machen will, der
geh auf Vollkommenheiten aus, und gewoͤhne ſein Auge, Schoͤnheiten zu ſuchen und zu finden,
laſſe ſich den ſchrecklichen Verfall der ſchoͤnen menſchlichen Natur (die doch ja nur deswegen ſo tief
gefallen iſt, damit ſie ihr unerforſchlicher Urheber himmelhoch erhebe) nicht abhalten, immerfort
Schoͤnheiten zu ſuchen, ſo weit er ſie immer ſuchen kann.

Nichts wird geſchickter ſeyn, ſeinen Verſtand, ſeine Schauenskraft zu uͤben und zu ſchaͤr-
fen, ſeinen Geſchmack zu verfeinern, und ſein Herz zu verbeſſern und zu erweitern. Nichts iſt
geſchickter den Menſchen menſchlicher zu machen, als die Entdeckung und Beobach-
tung der Schoͤnheiten und Vollkommenheiten der menſchlichen Natur.
Und allent-
halben wo er iſt, werden ſich ſeinen offenen Augen Schaͤtze darbieten, die unſchaͤtzbar ſind —
wenn gleich beynahe niemand ihren Werth kennt, wenn gleich unzaͤhlige es ſich zur Religion
machen, die menſchliche Natur, die doch warlich, ſo ſehr wie alle Geſchoͤpfe Gottes, gut und

unver-
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. G
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[41/0065] der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt. Jede Art von Vollkommenheit iſt nur Eine, aber die Abweichungen davon ſind unzaͤhlig. So wie nur Eine Wahrheit iſt, aber die ihr entgegenſtehenden Jrrthuͤmer ſind un- zaͤhlig. Tauſend Jrrthuͤmer ſind leichter geſagt, als Eine Wahrheit. Ein mittelmaͤßiger Zeichner entwirft in einem Tage hundert Geſichter von Thoren und Boͤſewichter, und der geſchickteſte zeichnet in dieſer Zeit vielleicht kaum Ein rechtſchaffen weiſes, edles, oder erhabenes Geſicht. Es erfordert alſo bey der Menge von Unvollkommenheiten, mit denen wir umringt ſind, und bey der Leichtigkeit, womit man dieſe herzeichnen, beſchreiben und entwickeln kann, — und bey dem offnen Felde, das ſich dem Witze zu den luſtigſten Bemerkungen und unterhaltendſten Ein- faͤllen darbeut; es erfordert, ſage ich, anfangs viel Selbſtverlaͤugnung, oder ein großes Maas bruͤderlicher Menſchenliebe — das ſtolze Verlangen, Unvollkommenheiten an andern zu bemerken, und daruͤber zu triumphiren — bey ſich zu unterdruͤcken und im Zaum zu halten, und vornehm- lich nur das viel ſeltnere Schoͤne, Edle, Erhabene, Vollkommene, das um ſo viel ſchwerer wahrzunehmen und zu beſchreiben iſt, zum naͤheren und erſten Gegenſtande ſeiner Beobachtungen und Beſchreibungen zu machen. — Aber dieſe Verlaͤugnung fuͤhrt, je ſchwerer ſie iſt, um ſo viel groͤßere Belohnung mit ſich. Wer in der Welt Freude genießen und andern Menſchen weiſe Freude machen will, der geh auf Vollkommenheiten aus, und gewoͤhne ſein Auge, Schoͤnheiten zu ſuchen und zu finden, laſſe ſich den ſchrecklichen Verfall der ſchoͤnen menſchlichen Natur (die doch ja nur deswegen ſo tief gefallen iſt, damit ſie ihr unerforſchlicher Urheber himmelhoch erhebe) nicht abhalten, immerfort Schoͤnheiten zu ſuchen, ſo weit er ſie immer ſuchen kann. Nichts wird geſchickter ſeyn, ſeinen Verſtand, ſeine Schauenskraft zu uͤben und zu ſchaͤr- fen, ſeinen Geſchmack zu verfeinern, und ſein Herz zu verbeſſern und zu erweitern. Nichts iſt geſchickter den Menſchen menſchlicher zu machen, als die Entdeckung und Beobach- tung der Schoͤnheiten und Vollkommenheiten der menſchlichen Natur. Und allent- halben wo er iſt, werden ſich ſeinen offenen Augen Schaͤtze darbieten, die unſchaͤtzbar ſind — wenn gleich beynahe niemand ihren Werth kennt, wenn gleich unzaͤhlige es ſich zur Religion machen, die menſchliche Natur, die doch warlich, ſo ſehr wie alle Geſchoͤpfe Gottes, gut und unver- Phyſ. Fragm. I. Verſuch. G

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/65>, abgerufen am 21.11.2024.