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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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III. Fragment. Ursachen
nen davon und dafür geschrieben haben. Wie leise und schwach ist die Stimme aller Männer, von
entscheidendem Ansehen, für die Wahrheit und Würde dieser Wissenschaft! *)

Wer ist männlich, fest und selbstständig genug, etwas für heilig zu halten, was durch
Entheiligung ganzer Jahrhunderte lächerlich und abgeschmackt geworden ist? -- Jsts nicht der
alltägliche Gang aller menschlichen Dinge? Erst zu sehr vergöttert, dann zu tief erniedrigt zu wer-
den? Mit schlechten Gründen vergöttert; dann mit schlechten Gründen mißhandelt? Durch die
ekelhafte Weise, wie diese Wissenschaft mißhandelt worden, wurde sie selber ekelhaft. Welcher
Wahrheit, welcher erhabnen Religionslehre ists anders ergangen? Welche gute Sache in der
Welt kann nicht durch schlechte Gründe und schlechte Sachwalter wenigstens eine Zeitlang zur
schlechtesten gemacht werden? Wie viel tausende haben sich deswegen von dem Glauben an die
evangelische Wahrheit entfernt, weil man ihnen diese Wahrheit mit den elendesten Gründen ver-
theidigt, die Wahrheit selbst in einem verfälschenden Lichte vorgetragen hat?

2. Andre eifern wider die Physiognomik mit dem besten, menschenfreundlich-
sten Herzen.
Sie glauben, und nicht ganz ohne Gründe, daß die meisten Menschen sie zum
Nachtheil ihrer Nebenmenschen mißbrauchen würden. Sie sehen die vielen erbärmlichen und belei-
digenden Urtheile voraus, die unwissende und bösherzige Menschen über andre fällen würden.
Die Verläumdungssucht, die keine Thaten erzählen kann, wird die Absichten -- und um dieß
zu können, die Gesichtsbildung verdächtig machen. Diese liebenswürdigen Seelen, um deren
willen allein schon die Physiognomik wahr zu seyn verdiente, weil sie gewiß bey ihrem Lichte in
neuer Schönheit erscheinen würden -- müssen darwider eifern, weil nicht sie, sondern so manche
Menschen, die sie für viel besser halten, als ihre Gesichter, verlieren würden, wenn die Gesichts-
deutung eine wahre Wissenschaft werden sollte. **)

3. Sollten nicht auch sehr viele aus Schwachheit des Verstandes darwider ei-
fern?
-- Wie wenige haben beobachtet? können beobachten? wie wenige selbst von denen, denen

nicht
*) Sehet das folgende Fragment.
**) Jch werde unten in dem Fragmente von dem
Nutzen und Schaden der Physiognomik und ver-[Spaltenumbruch]
hoffentlich durch die Art, wie ich von dieser Sache
schreiben werde, diese guten Herzen sehr zu beruhi-
gen suchen.

III. Fragment. Urſachen
nen davon und dafuͤr geſchrieben haben. Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner, von
entſcheidendem Anſehen, fuͤr die Wahrheit und Wuͤrde dieſer Wiſſenſchaft! *)

Wer iſt maͤnnlich, feſt und ſelbſtſtaͤndig genug, etwas fuͤr heilig zu halten, was durch
Entheiligung ganzer Jahrhunderte laͤcherlich und abgeſchmackt geworden iſt? — Jſts nicht der
alltaͤgliche Gang aller menſchlichen Dinge? Erſt zu ſehr vergoͤttert, dann zu tief erniedrigt zu wer-
den? Mit ſchlechten Gruͤnden vergoͤttert; dann mit ſchlechten Gruͤnden mißhandelt? Durch die
ekelhafte Weiſe, wie dieſe Wiſſenſchaft mißhandelt worden, wurde ſie ſelber ekelhaft. Welcher
Wahrheit, welcher erhabnen Religionslehre iſts anders ergangen? Welche gute Sache in der
Welt kann nicht durch ſchlechte Gruͤnde und ſchlechte Sachwalter wenigſtens eine Zeitlang zur
ſchlechteſten gemacht werden? Wie viel tauſende haben ſich deswegen von dem Glauben an die
evangeliſche Wahrheit entfernt, weil man ihnen dieſe Wahrheit mit den elendeſten Gruͤnden ver-
theidigt, die Wahrheit ſelbſt in einem verfaͤlſchenden Lichte vorgetragen hat?

2. Andre eifern wider die Phyſiognomik mit dem beſten, menſchenfreundlich-
ſten Herzen.
Sie glauben, und nicht ganz ohne Gruͤnde, daß die meiſten Menſchen ſie zum
Nachtheil ihrer Nebenmenſchen mißbrauchen wuͤrden. Sie ſehen die vielen erbaͤrmlichen und belei-
digenden Urtheile voraus, die unwiſſende und boͤsherzige Menſchen uͤber andre faͤllen wuͤrden.
Die Verlaͤumdungsſucht, die keine Thaten erzaͤhlen kann, wird die Abſichten — und um dieß
zu koͤnnen, die Geſichtsbildung verdaͤchtig machen. Dieſe liebenswuͤrdigen Seelen, um deren
willen allein ſchon die Phyſiognomik wahr zu ſeyn verdiente, weil ſie gewiß bey ihrem Lichte in
neuer Schoͤnheit erſcheinen wuͤrden — muͤſſen darwider eifern, weil nicht ſie, ſondern ſo manche
Menſchen, die ſie fuͤr viel beſſer halten, als ihre Geſichter, verlieren wuͤrden, wenn die Geſichts-
deutung eine wahre Wiſſenſchaft werden ſollte. **)

3. Sollten nicht auch ſehr viele aus Schwachheit des Verſtandes darwider ei-
fern?
— Wie wenige haben beobachtet? koͤnnen beobachten? wie wenige ſelbſt von denen, denen

nicht
*) Sehet das folgende Fragment.
**) Jch werde unten in dem Fragmente von dem
Nutzen und Schaden der Phyſiognomik und ver-[Spaltenumbruch]
hoffentlich durch die Art, wie ich von dieſer Sache
ſchreiben werde, dieſe guten Herzen ſehr zu beruhi-
gen ſuchen.
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[18/0042] III. Fragment. Urſachen nen davon und dafuͤr geſchrieben haben. Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner, von entſcheidendem Anſehen, fuͤr die Wahrheit und Wuͤrde dieſer Wiſſenſchaft! *) Wer iſt maͤnnlich, feſt und ſelbſtſtaͤndig genug, etwas fuͤr heilig zu halten, was durch Entheiligung ganzer Jahrhunderte laͤcherlich und abgeſchmackt geworden iſt? — Jſts nicht der alltaͤgliche Gang aller menſchlichen Dinge? Erſt zu ſehr vergoͤttert, dann zu tief erniedrigt zu wer- den? Mit ſchlechten Gruͤnden vergoͤttert; dann mit ſchlechten Gruͤnden mißhandelt? Durch die ekelhafte Weiſe, wie dieſe Wiſſenſchaft mißhandelt worden, wurde ſie ſelber ekelhaft. Welcher Wahrheit, welcher erhabnen Religionslehre iſts anders ergangen? Welche gute Sache in der Welt kann nicht durch ſchlechte Gruͤnde und ſchlechte Sachwalter wenigſtens eine Zeitlang zur ſchlechteſten gemacht werden? Wie viel tauſende haben ſich deswegen von dem Glauben an die evangeliſche Wahrheit entfernt, weil man ihnen dieſe Wahrheit mit den elendeſten Gruͤnden ver- theidigt, die Wahrheit ſelbſt in einem verfaͤlſchenden Lichte vorgetragen hat? 2. Andre eifern wider die Phyſiognomik mit dem beſten, menſchenfreundlich- ſten Herzen. Sie glauben, und nicht ganz ohne Gruͤnde, daß die meiſten Menſchen ſie zum Nachtheil ihrer Nebenmenſchen mißbrauchen wuͤrden. Sie ſehen die vielen erbaͤrmlichen und belei- digenden Urtheile voraus, die unwiſſende und boͤsherzige Menſchen uͤber andre faͤllen wuͤrden. Die Verlaͤumdungsſucht, die keine Thaten erzaͤhlen kann, wird die Abſichten — und um dieß zu koͤnnen, die Geſichtsbildung verdaͤchtig machen. Dieſe liebenswuͤrdigen Seelen, um deren willen allein ſchon die Phyſiognomik wahr zu ſeyn verdiente, weil ſie gewiß bey ihrem Lichte in neuer Schoͤnheit erſcheinen wuͤrden — muͤſſen darwider eifern, weil nicht ſie, ſondern ſo manche Menſchen, die ſie fuͤr viel beſſer halten, als ihre Geſichter, verlieren wuͤrden, wenn die Geſichts- deutung eine wahre Wiſſenſchaft werden ſollte. **) 3. Sollten nicht auch ſehr viele aus Schwachheit des Verſtandes darwider ei- fern? — Wie wenige haben beobachtet? koͤnnen beobachten? wie wenige ſelbſt von denen, denen nicht *) Sehet das folgende Fragment. **) Jch werde unten in dem Fragmente von dem Nutzen und Schaden der Phyſiognomik und ver- hoffentlich durch die Art, wie ich von dieſer Sache ſchreiben werde, dieſe guten Herzen ſehr zu beruhi- gen ſuchen.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/42>, abgerufen am 23.11.2024.