Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

der physiognomischen Kenntnisse des Verfassers.
sendmal hatt' ich ihn angesehen, ohn einmal seine Physiognomie mit Lamberts zu vergleichen; Jch
hatt' ihn in Lamberts Gesellschaft gesehen, mit Lamberten controvertiren gehört und, -- wol
ein unwiderleglicher Beweis meines, wenigstens damals, stumpfen Beobachtungsgeistes -- und
beobachtete nicht die mindeste Aehnlichkeit.

Aber indem ich zeichnete, fiel's mir so gleich auf -- stand so gleich Lamberts erwecktes
Bild vor mir -- "Du hast Lamberts Nase!" sagt' ich meinem Freunde. Je mehr ich dran
zeichnete, desto spürbarer wurde mir die Aehnlichkeit. Jch will Heßen nicht mit Lamberten ver-
gleichen; -- nicht sagen, was Heß hätte werden können, wenn es Gott gefallen hätte, ihm meh-
rere Jahre zu schenken. -- Heß hatte keine Ader zur Mathematik; hatte gewiß nicht das tiefdrin-
gende Genie dieses so einzigen Mannes; sein Temperamentscharacter ist von Lamberts sehr ver-
schieden, so verschieden, als ihre Augen und Stirnen -- Aber in der Feinheit, in der Art ihrer
Nasen, waren sie sich ziemlich ähnlich -- und beyde zeichnen sich in ungleichem Grade durch gros-
sen, hellen, vielfassenden Verstand aus. Dieses wußt' ich ohne alle Rücksicht auf ihre Physiogno-
mien: -- Aber diese Aehnlichkeit der Nasen schien mir so sonderbar, daß ich auf dergleichen Aehn-
lichkeiten wenigstens beym Zeichnen aufmerksamer zu werden begann.

Dieß Zusammentreffen verschiedener Gesichter, die ich zufälliger Weise, oft in Einem Ta-
ge zeichnete, und die sich mir gleichsam aufdringende Aehnlichkeit wenigstens gewisser Seiten des
Characters der Urbilder -- ward mir immer wichtiger, machte mich immer aufmerksamer. --
Doch bey dem allen war mir noch nicht in Sinn gekommen, auf Beobachtungen gleichsam aus-
zugehen, vielweniger die Physiognomie zu studiren. Selber das Wort Physiognomie war mir
noch eins meiner ungebrauchtesten Wörter.

Von
[Spaltenumbruch] Jn Herrn Füeßlins Wohnung brach Feuer aus -- al-
les, was er hatte, ein Schatz der kostbarsten Zeichnun-
gen, sieben über Leben große Apostel, die er für eine
Kirche in England fertig hatte, und hundert gedanken-
reiche Skizen, handschriftliche Poesien -- und unter
[Spaltenumbruch] diesen allen auch das Bild meines Freundes, brannten
zu Asche. -- Wer etwas von Füeßlin weiß, wird die-
se Anekdote nicht für geringfügig halten; Füeßlin, der
so manche Talente von Klopstock, Raphael und Mi-
chelange
in sich vereinigt.
Phys. Fragm. I. Versuch. C

der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers.
ſendmal hatt' ich ihn angeſehen, ohn einmal ſeine Phyſiognomie mit Lamberts zu vergleichen; Jch
hatt' ihn in Lamberts Geſellſchaft geſehen, mit Lamberten controvertiren gehoͤrt und, — wol
ein unwiderleglicher Beweis meines, wenigſtens damals, ſtumpfen Beobachtungsgeiſtes — und
beobachtete nicht die mindeſte Aehnlichkeit.

Aber indem ich zeichnete, fiel's mir ſo gleich auf — ſtand ſo gleich Lamberts erwecktes
Bild vor mir — „Du haſt Lamberts Naſe!“ ſagt' ich meinem Freunde. Je mehr ich dran
zeichnete, deſto ſpuͤrbarer wurde mir die Aehnlichkeit. Jch will Heßen nicht mit Lamberten ver-
gleichen; — nicht ſagen, was Heß haͤtte werden koͤnnen, wenn es Gott gefallen haͤtte, ihm meh-
rere Jahre zu ſchenken. — Heß hatte keine Ader zur Mathematik; hatte gewiß nicht das tiefdrin-
gende Genie dieſes ſo einzigen Mannes; ſein Temperamentscharacter iſt von Lamberts ſehr ver-
ſchieden, ſo verſchieden, als ihre Augen und Stirnen — Aber in der Feinheit, in der Art ihrer
Naſen, waren ſie ſich ziemlich aͤhnlich — und beyde zeichnen ſich in ungleichem Grade durch groſ-
ſen, hellen, vielfaſſenden Verſtand aus. Dieſes wußt' ich ohne alle Ruͤckſicht auf ihre Phyſiogno-
mien: — Aber dieſe Aehnlichkeit der Naſen ſchien mir ſo ſonderbar, daß ich auf dergleichen Aehn-
lichkeiten wenigſtens beym Zeichnen aufmerkſamer zu werden begann.

Dieß Zuſammentreffen verſchiedener Geſichter, die ich zufaͤlliger Weiſe, oft in Einem Ta-
ge zeichnete, und die ſich mir gleichſam aufdringende Aehnlichkeit wenigſtens gewiſſer Seiten des
Characters der Urbilder — ward mir immer wichtiger, machte mich immer aufmerkſamer. —
Doch bey dem allen war mir noch nicht in Sinn gekommen, auf Beobachtungen gleichſam aus-
zugehen, vielweniger die Phyſiognomie zu ſtudiren. Selber das Wort Phyſiognomie war mir
noch eins meiner ungebrauchteſten Woͤrter.

Von
[Spaltenumbruch] Jn Herrn Fuͤeßlins Wohnung brach Feuer aus — al-
les, was er hatte, ein Schatz der koſtbarſten Zeichnun-
gen, ſieben uͤber Leben große Apoſtel, die er fuͤr eine
Kirche in England fertig hatte, und hundert gedanken-
reiche Skizen, handſchriftliche Poeſien — und unter
[Spaltenumbruch] dieſen allen auch das Bild meines Freundes, brannten
zu Aſche. — Wer etwas von Fuͤeßlin weiß, wird die-
ſe Anekdote nicht fuͤr geringfuͤgig halten; Fuͤeßlin, der
ſo manche Talente von Klopſtock, Raphael und Mi-
chelange
in ſich vereinigt.
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. C
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="9"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Kenntni&#x017F;&#x017F;e des Verfa&#x017F;&#x017F;ers.</hi></fw><lb/>
&#x017F;endmal hatt' ich ihn ange&#x017F;ehen, ohn einmal &#x017F;eine Phy&#x017F;iognomie mit <hi rendition="#fr">Lamberts</hi> zu vergleichen; Jch<lb/>
hatt' ihn in <hi rendition="#fr">Lamberts</hi> Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft ge&#x017F;ehen, mit <hi rendition="#fr">Lamberten</hi> controvertiren geho&#x0364;rt und, &#x2014; wol<lb/>
ein unwiderleglicher Beweis meines, wenig&#x017F;tens damals, &#x017F;tumpfen Beobachtungsgei&#x017F;tes &#x2014; und<lb/>
beobachtete nicht die minde&#x017F;te Aehnlichkeit.</p><lb/>
          <p>Aber indem ich zeichnete, fiel's mir &#x017F;o gleich auf &#x2014; &#x017F;tand &#x017F;o gleich <hi rendition="#fr">Lamberts</hi> erwecktes<lb/>
Bild vor mir &#x2014; &#x201E;Du ha&#x017F;t <hi rendition="#fr">Lamberts</hi> Na&#x017F;e!&#x201C; &#x017F;agt' ich meinem Freunde. Je mehr ich dran<lb/>
zeichnete, de&#x017F;to &#x017F;pu&#x0364;rbarer wurde mir die Aehnlichkeit. Jch will <hi rendition="#fr">Heßen</hi> nicht mit <hi rendition="#fr">Lamberten</hi> ver-<lb/>
gleichen; &#x2014; nicht &#x017F;agen, was <hi rendition="#fr">Heß</hi> ha&#x0364;tte werden ko&#x0364;nnen, wenn es Gott gefallen ha&#x0364;tte, ihm meh-<lb/>
rere Jahre zu &#x017F;chenken. &#x2014; <hi rendition="#fr">Heß</hi> hatte keine Ader zur Mathematik; hatte gewiß nicht das tiefdrin-<lb/>
gende Genie die&#x017F;es &#x017F;o einzigen Mannes; &#x017F;ein Temperamentscharacter i&#x017F;t von <hi rendition="#fr">Lamberts</hi> &#x017F;ehr ver-<lb/>
&#x017F;chieden, &#x017F;o ver&#x017F;chieden, als ihre Augen und Stirnen &#x2014; Aber in der Feinheit, in der Art ihrer<lb/>
Na&#x017F;en, waren &#x017F;ie &#x017F;ich ziemlich a&#x0364;hnlich &#x2014; und beyde zeichnen &#x017F;ich in ungleichem Grade durch gro&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, hellen, vielfa&#x017F;&#x017F;enden Ver&#x017F;tand aus. Die&#x017F;es wußt' ich ohne alle Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf ihre Phy&#x017F;iogno-<lb/>
mien: &#x2014; Aber die&#x017F;e Aehnlichkeit der Na&#x017F;en &#x017F;chien mir &#x017F;o &#x017F;onderbar, daß ich auf dergleichen Aehn-<lb/>
lichkeiten wenig&#x017F;tens beym Zeichnen aufmerk&#x017F;amer zu werden begann.</p><lb/>
          <p>Dieß Zu&#x017F;ammentreffen ver&#x017F;chiedener Ge&#x017F;ichter, die ich zufa&#x0364;lliger Wei&#x017F;e, oft in Einem Ta-<lb/>
ge zeichnete, und die &#x017F;ich mir gleich&#x017F;am aufdringende Aehnlichkeit wenig&#x017F;tens gewi&#x017F;&#x017F;er Seiten des<lb/>
Characters der Urbilder &#x2014; ward mir immer wichtiger, machte mich immer aufmerk&#x017F;amer. &#x2014;<lb/>
Doch bey dem allen war mir noch nicht in Sinn gekommen, auf Beobachtungen gleich&#x017F;am aus-<lb/>
zugehen, vielweniger die Phy&#x017F;iognomie zu &#x017F;tudiren. Selber das Wort <hi rendition="#fr">Phy&#x017F;iognomie</hi> war mir<lb/>
noch eins meiner ungebrauchte&#x017F;ten Wo&#x0364;rter.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Von</fw><lb/>
          <p>
            <note xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="**)"><cb/>
Jn Herrn <hi rendition="#fr">Fu&#x0364;eßlins</hi> Wohnung brach Feuer aus &#x2014; al-<lb/>
les, was er hatte, ein Schatz der ko&#x017F;tbar&#x017F;ten Zeichnun-<lb/>
gen, &#x017F;ieben u&#x0364;ber Leben große Apo&#x017F;tel, die er fu&#x0364;r eine<lb/>
Kirche in England fertig hatte, und hundert gedanken-<lb/>
reiche Skizen, hand&#x017F;chriftliche Poe&#x017F;ien &#x2014; und unter<lb/><cb/>
die&#x017F;en allen auch das Bild meines Freundes, brannten<lb/>
zu A&#x017F;che. &#x2014; Wer etwas von <hi rendition="#fr">Fu&#x0364;eßlin</hi> weiß, wird die-<lb/>
&#x017F;e Anekdote nicht fu&#x0364;r geringfu&#x0364;gig halten; Fu&#x0364;eßlin, der<lb/>
&#x017F;o manche Talente von <hi rendition="#fr">Klop&#x017F;tock, Raphael</hi> und <hi rendition="#fr">Mi-<lb/>
chelange</hi> in &#x017F;ich vereinigt.</note>
          </p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> C</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0033] der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers. ſendmal hatt' ich ihn angeſehen, ohn einmal ſeine Phyſiognomie mit Lamberts zu vergleichen; Jch hatt' ihn in Lamberts Geſellſchaft geſehen, mit Lamberten controvertiren gehoͤrt und, — wol ein unwiderleglicher Beweis meines, wenigſtens damals, ſtumpfen Beobachtungsgeiſtes — und beobachtete nicht die mindeſte Aehnlichkeit. Aber indem ich zeichnete, fiel's mir ſo gleich auf — ſtand ſo gleich Lamberts erwecktes Bild vor mir — „Du haſt Lamberts Naſe!“ ſagt' ich meinem Freunde. Je mehr ich dran zeichnete, deſto ſpuͤrbarer wurde mir die Aehnlichkeit. Jch will Heßen nicht mit Lamberten ver- gleichen; — nicht ſagen, was Heß haͤtte werden koͤnnen, wenn es Gott gefallen haͤtte, ihm meh- rere Jahre zu ſchenken. — Heß hatte keine Ader zur Mathematik; hatte gewiß nicht das tiefdrin- gende Genie dieſes ſo einzigen Mannes; ſein Temperamentscharacter iſt von Lamberts ſehr ver- ſchieden, ſo verſchieden, als ihre Augen und Stirnen — Aber in der Feinheit, in der Art ihrer Naſen, waren ſie ſich ziemlich aͤhnlich — und beyde zeichnen ſich in ungleichem Grade durch groſ- ſen, hellen, vielfaſſenden Verſtand aus. Dieſes wußt' ich ohne alle Ruͤckſicht auf ihre Phyſiogno- mien: — Aber dieſe Aehnlichkeit der Naſen ſchien mir ſo ſonderbar, daß ich auf dergleichen Aehn- lichkeiten wenigſtens beym Zeichnen aufmerkſamer zu werden begann. Dieß Zuſammentreffen verſchiedener Geſichter, die ich zufaͤlliger Weiſe, oft in Einem Ta- ge zeichnete, und die ſich mir gleichſam aufdringende Aehnlichkeit wenigſtens gewiſſer Seiten des Characters der Urbilder — ward mir immer wichtiger, machte mich immer aufmerkſamer. — Doch bey dem allen war mir noch nicht in Sinn gekommen, auf Beobachtungen gleichſam aus- zugehen, vielweniger die Phyſiognomie zu ſtudiren. Selber das Wort Phyſiognomie war mir noch eins meiner ungebrauchteſten Woͤrter. Von **) **) Jn Herrn Fuͤeßlins Wohnung brach Feuer aus — al- les, was er hatte, ein Schatz der koſtbarſten Zeichnun- gen, ſieben uͤber Leben große Apoſtel, die er fuͤr eine Kirche in England fertig hatte, und hundert gedanken- reiche Skizen, handſchriftliche Poeſien — und unter dieſen allen auch das Bild meines Freundes, brannten zu Aſche. — Wer etwas von Fuͤeßlin weiß, wird die- ſe Anekdote nicht fuͤr geringfuͤgig halten; Fuͤeßlin, der ſo manche Talente von Klopſtock, Raphael und Mi- chelange in ſich vereinigt. Phyſ. Fragm. I. Verſuch. C

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/33
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/33>, abgerufen am 18.12.2024.