Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.zur Prüfung des physiognomischen Genies. dieß seltene Gemisch von Kindereinfalt, Kinderbiegsamkeit, reizbarem Enthusiasmus -- undimmer Herzensfestigkeit; diese Treue im Berufe; diese wahre tiefe unschwatzhafte Gottesfurcht; dieser Fleiß, diese Ruhe, diese plane, hellfortfließende Stille der Seele -- Siehst du nichts da- von in diesen Linien? Siehst du nichts davon im Urbilde -- o Freund, so ist jedes Wort die- ser Schrift dir unerträgliches, dir unverstehbares Gewäsch in einer fremden Sprache.*) P. Einige kurze Urtheile über kleine chodowiekische Köpfe. Die Kleinheit und die damit verbundne Unbestimmtheit der folgenden 48 chodowiekischen Köpf- I. Tafel. 1) Das erste Gesicht hat was Edles, das sich mit sehr weniger Verstärkung oder Bestimmung bis zur Größe erhöhen ließe. Die horizontale Lage der Augenbraunen, die kurze sanftzu- rückgehende Stirne, (wobey zwar der Augknochen oben schärfer hervorgehend, gegen den Augwinkel tiefer eingeschnitten seyn sollte,) und die Einfalt des Ganzen -- hat für mein Gefühl was ungemein Einnehmendes. 2) Das zweyte scheint mir nicht wahr genug gezeichnet zu seyn. Die Nase verdirbt das Gesichte. 3) Ein edles, verständiges, feinfühlendes Köpfchen. 4) Das vierte etwas schwach und kindisch. 5) Das fünfte -- weise, theilnehmende, mit Mitleiden vermischte Aufmerksamkeit. 6) Ein *) [Spaltenumbruch]
Durch ein Versehen des Kupferdruckers an ei- nem entfernten Ort ists geschehen, daß zu etwa 10 Ta- feln dieses Werkes schlechter Papier genommen worden. [Spaltenumbruch] Es geschahe zum größten Verdrusse des unschuldigen Verfassers und Verlegers. Man bittet deswegen um Nachsicht und Vergebung. Phys. Fragm. I. Versuch. E e
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. dieß ſeltene Gemiſch von Kindereinfalt, Kinderbiegſamkeit, reizbarem Enthuſiasmus — undimmer Herzensfeſtigkeit; dieſe Treue im Berufe; dieſe wahre tiefe unſchwatzhafte Gottesfurcht; dieſer Fleiß, dieſe Ruhe, dieſe plane, hellfortfließende Stille der Seele — Siehſt du nichts da- von in dieſen Linien? Siehſt du nichts davon im Urbilde — o Freund, ſo iſt jedes Wort die- ſer Schrift dir unertraͤgliches, dir unverſtehbares Gewaͤſch in einer fremden Sprache.*) P. Einige kurze Urtheile uͤber kleine chodowiekiſche Koͤpfe. Die Kleinheit und die damit verbundne Unbeſtimmtheit der folgenden 48 chodowiekiſchen Koͤpf- I. Tafel. 1) Das erſte Geſicht hat was Edles, das ſich mit ſehr weniger Verſtaͤrkung oder Beſtimmung bis zur Groͤße erhoͤhen ließe. Die horizontale Lage der Augenbraunen, die kurze ſanftzu- ruͤckgehende Stirne, (wobey zwar der Augknochen oben ſchaͤrfer hervorgehend, gegen den Augwinkel tiefer eingeſchnitten ſeyn ſollte,) und die Einfalt des Ganzen — hat fuͤr mein Gefuͤhl was ungemein Einnehmendes. 2) Das zweyte ſcheint mir nicht wahr genug gezeichnet zu ſeyn. Die Naſe verdirbt das Geſichte. 3) Ein edles, verſtaͤndiges, feinfuͤhlendes Koͤpfchen. 4) Das vierte etwas ſchwach und kindiſch. 5) Das fuͤnfte — weiſe, theilnehmende, mit Mitleiden vermiſchte Aufmerkſamkeit. 6) Ein *) [Spaltenumbruch]
Durch ein Verſehen des Kupferdruckers an ei- nem entfernten Ort iſts geſchehen, daß zu etwa 10 Ta- feln dieſes Werkes ſchlechter Papier genommen worden. [Spaltenumbruch] Es geſchahe zum groͤßten Verdruſſe des unſchuldigen Verfaſſers und Verlegers. Man bittet deswegen um Nachſicht und Vergebung. Phyſ. Fragm. I. Verſuch. E e
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zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
dieß ſeltene Gemiſch von Kindereinfalt, Kinderbiegſamkeit, reizbarem Enthuſiasmus — und
immer Herzensfeſtigkeit; dieſe Treue im Berufe; dieſe wahre tiefe unſchwatzhafte Gottesfurcht;
dieſer Fleiß, dieſe Ruhe, dieſe plane, hellfortfließende Stille der Seele — Siehſt du nichts da-
von in dieſen Linien? Siehſt du nichts davon im Urbilde — o Freund, ſo iſt jedes Wort die-
ſer Schrift dir unertraͤgliches, dir unverſtehbares Gewaͤſch in einer fremden Sprache. *)
P.
Einige kurze Urtheile uͤber kleine chodowiekiſche Koͤpfe.
Die Kleinheit und die damit verbundne Unbeſtimmtheit der folgenden 48 chodowiekiſchen Koͤpf-
chen macht es zwar unmoͤglich, ſie alle mit hinlaͤnglicher Zuverlaͤßigkeit zu beurtheilen. Doch ſey
mir der Verſuch vergoͤnnet, uͤber jeden wenigſtens ein allgemeines Woͤrtchen zu ſagen. Wir
wollen, Leſer, unſer Licht zuſammen tragen, und unſer Menſchengefuͤhl an einander zu waͤrmen
ſuchen.
I. Tafel.
1) Das erſte Geſicht hat was Edles, das ſich mit ſehr weniger Verſtaͤrkung oder Beſtimmung
bis zur Groͤße erhoͤhen ließe. Die horizontale Lage der Augenbraunen, die kurze ſanftzu-
ruͤckgehende Stirne, (wobey zwar der Augknochen oben ſchaͤrfer hervorgehend, gegen den
Augwinkel tiefer eingeſchnitten ſeyn ſollte,) und die Einfalt des Ganzen — hat fuͤr mein
Gefuͤhl was ungemein Einnehmendes.
2) Das zweyte ſcheint mir nicht wahr genug gezeichnet zu ſeyn. Die Naſe verdirbt das
Geſichte.
3) Ein edles, verſtaͤndiges, feinfuͤhlendes Koͤpfchen.
4) Das vierte etwas ſchwach und kindiſch.
5) Das fuͤnfte — weiſe, theilnehmende, mit Mitleiden vermiſchte Aufmerkſamkeit.
6) Ein
*)
Durch ein Verſehen des Kupferdruckers an ei-
nem entfernten Ort iſts geſchehen, daß zu etwa 10 Ta-
feln dieſes Werkes ſchlechter Papier genommen worden.
Es geſchahe zum groͤßten Verdruſſe des unſchuldigen
Verfaſſers und Verlegers. Man bittet deswegen um
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