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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
hören sollte, so freudig er's auffaßt, wenn er so was hört, ohne daß es ihm in den Sinn
kömmt, sich damit an einem andern Orte zu brüsten. Er hat ein sanftes pockennarbigtes Weib-
chen, das sich durch keine blendende Reize -- aber durch die sanfteste Leidensdemuth empfiehlt,
und deren Wahl, wenn er sie, wie ich glaube, aus Geschmack und eigenem Gefühle ge-
wählet hat, einen großen Begriff von der, vielleicht sonst nicht genug entwickelten, Feinheit seiner
Seele giebt. Er ist aufrichtig bescheiden, und ich weiß, daß er an alles in der Welt eher denken
mag, als daß von ihm in diesem Buche gesprochen wird. Sollt's ihm einmal zu Gesichte kom-
men? Die Miene möcht' ich sehen! das liebe Ehepaar neben einander an dem Tischgen, wo es of-
fen vor ihnen läge -- sie auf einmal dieses Bild erblickten -- und läsen. Kömmt diese Stunde,
liebes Paar, das ich in meinem Leben vielleicht nimmer sehen werde -- ich weiß, sie ist nicht die
unseligste Eures Lebens, ob ihr gleich erröthet oder erblasset -- Jch weiß eure ganz reine unei-
gennützige Güte wird über Eure Bescheidenheit siegen. Jhr werdet am Ende lächeln -- und
mir verzeihen.

Der Fürst auf diesem Blatte, (errath ihn; hast du physiognomisch Gefühl oder nur
mäßige Weltkenntniß, du wirst ihn errathen;) ist die gütigste, die bescheidenste Seele -- Spar-
sam an Worten; sanft in allen seinen Aeußerungen, und dennoch nicht schleichend. Ein gesundes
Urtheil -- das sich nur nicht genug fühlt, nicht heraus wagt -- siehst du immer auf seinem
Blick, auf jedem halbausgesprochnem Worte schweben. Seine Stirne zeigt Uebergewicht der
Güte, aber keine Dürftigkeit des Verstandes. Der Umriß von der Nasenwurzel bis zur Ober-
lippe versprechen noch mehr, als seine zu große Schüchternheit in seinen Worten bemerken läßt ...
Ha! wie sehnt sich mein Herz, ihm Gefühl seiner selbst in seine edle Seele zu athmen! Kann ich's
nicht, kann's die unvergleichliche Fürstinn, von der jedes, auch das beste, Porträt Carrikatur,
jede, auch die schlechteste, Carrikatur aber nicht vermögend wäre, alle Güte auszulöschen, die
mit dieser Fülle auf ein Menschengesicht, auf eine ganze Menschengestalt ausgegossen ist!

Aber noch hab ich nichts von der Nathanaelsseele des Mediciners gesagt, von dem
du auf diesem Blatte ein schwaches Bild findest. --

Sein Blick ist nicht eines tief aufgrabenden Erforschers! Aber Blick dennoch eines
glücklichen freyen Genies! die gerade, freye, unverstellte, und dennoch überlegungsreiche Seele;

dieß

XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
hoͤren ſollte, ſo freudig er's auffaßt, wenn er ſo was hoͤrt, ohne daß es ihm in den Sinn
koͤmmt, ſich damit an einem andern Orte zu bruͤſten. Er hat ein ſanftes pockennarbigtes Weib-
chen, das ſich durch keine blendende Reize — aber durch die ſanfteſte Leidensdemuth empfiehlt,
und deren Wahl, wenn er ſie, wie ich glaube, aus Geſchmack und eigenem Gefuͤhle ge-
waͤhlet hat, einen großen Begriff von der, vielleicht ſonſt nicht genug entwickelten, Feinheit ſeiner
Seele giebt. Er iſt aufrichtig beſcheiden, und ich weiß, daß er an alles in der Welt eher denken
mag, als daß von ihm in dieſem Buche geſprochen wird. Sollt's ihm einmal zu Geſichte kom-
men? Die Miene moͤcht' ich ſehen! das liebe Ehepaar neben einander an dem Tiſchgen, wo es of-
fen vor ihnen laͤge — ſie auf einmal dieſes Bild erblickten — und laͤſen. Koͤmmt dieſe Stunde,
liebes Paar, das ich in meinem Leben vielleicht nimmer ſehen werde — ich weiß, ſie iſt nicht die
unſeligſte Eures Lebens, ob ihr gleich erroͤthet oder erblaſſet — Jch weiß eure ganz reine unei-
gennuͤtzige Guͤte wird uͤber Eure Beſcheidenheit ſiegen. Jhr werdet am Ende laͤcheln — und
mir verzeihen.

Der Fuͤrſt auf dieſem Blatte, (errath ihn; haſt du phyſiognomiſch Gefuͤhl oder nur
maͤßige Weltkenntniß, du wirſt ihn errathen;) iſt die guͤtigſte, die beſcheidenſte Seele — Spar-
ſam an Worten; ſanft in allen ſeinen Aeußerungen, und dennoch nicht ſchleichend. Ein geſundes
Urtheil — das ſich nur nicht genug fuͤhlt, nicht heraus wagt — ſiehſt du immer auf ſeinem
Blick, auf jedem halbausgeſprochnem Worte ſchweben. Seine Stirne zeigt Uebergewicht der
Guͤte, aber keine Duͤrftigkeit des Verſtandes. Der Umriß von der Naſenwurzel bis zur Ober-
lippe verſprechen noch mehr, als ſeine zu große Schuͤchternheit in ſeinen Worten bemerken laͤßt ...
Ha! wie ſehnt ſich mein Herz, ihm Gefuͤhl ſeiner ſelbſt in ſeine edle Seele zu athmen! Kann ich's
nicht, kann's die unvergleichliche Fuͤrſtinn, von der jedes, auch das beſte, Portraͤt Carrikatur,
jede, auch die ſchlechteſte, Carrikatur aber nicht vermoͤgend waͤre, alle Guͤte auszuloͤſchen, die
mit dieſer Fuͤlle auf ein Menſchengeſicht, auf eine ganze Menſchengeſtalt ausgegoſſen iſt!

Aber noch hab ich nichts von der Nathanaelsſeele des Mediciners geſagt, von dem
du auf dieſem Blatte ein ſchwaches Bild findeſt. —

Sein Blick iſt nicht eines tief aufgrabenden Erforſchers! Aber Blick dennoch eines
gluͤcklichen freyen Genies! die gerade, freye, unverſtellte, und dennoch uͤberlegungsreiche Seele;

dieß
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[208/0304] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen hoͤren ſollte, ſo freudig er's auffaßt, wenn er ſo was hoͤrt, ohne daß es ihm in den Sinn koͤmmt, ſich damit an einem andern Orte zu bruͤſten. Er hat ein ſanftes pockennarbigtes Weib- chen, das ſich durch keine blendende Reize — aber durch die ſanfteſte Leidensdemuth empfiehlt, und deren Wahl, wenn er ſie, wie ich glaube, aus Geſchmack und eigenem Gefuͤhle ge- waͤhlet hat, einen großen Begriff von der, vielleicht ſonſt nicht genug entwickelten, Feinheit ſeiner Seele giebt. Er iſt aufrichtig beſcheiden, und ich weiß, daß er an alles in der Welt eher denken mag, als daß von ihm in dieſem Buche geſprochen wird. Sollt's ihm einmal zu Geſichte kom- men? Die Miene moͤcht' ich ſehen! das liebe Ehepaar neben einander an dem Tiſchgen, wo es of- fen vor ihnen laͤge — ſie auf einmal dieſes Bild erblickten — und laͤſen. Koͤmmt dieſe Stunde, liebes Paar, das ich in meinem Leben vielleicht nimmer ſehen werde — ich weiß, ſie iſt nicht die unſeligſte Eures Lebens, ob ihr gleich erroͤthet oder erblaſſet — Jch weiß eure ganz reine unei- gennuͤtzige Guͤte wird uͤber Eure Beſcheidenheit ſiegen. Jhr werdet am Ende laͤcheln — und mir verzeihen. Der Fuͤrſt auf dieſem Blatte, (errath ihn; haſt du phyſiognomiſch Gefuͤhl oder nur maͤßige Weltkenntniß, du wirſt ihn errathen;) iſt die guͤtigſte, die beſcheidenſte Seele — Spar- ſam an Worten; ſanft in allen ſeinen Aeußerungen, und dennoch nicht ſchleichend. Ein geſundes Urtheil — das ſich nur nicht genug fuͤhlt, nicht heraus wagt — ſiehſt du immer auf ſeinem Blick, auf jedem halbausgeſprochnem Worte ſchweben. Seine Stirne zeigt Uebergewicht der Guͤte, aber keine Duͤrftigkeit des Verſtandes. Der Umriß von der Naſenwurzel bis zur Ober- lippe verſprechen noch mehr, als ſeine zu große Schuͤchternheit in ſeinen Worten bemerken laͤßt ... Ha! wie ſehnt ſich mein Herz, ihm Gefuͤhl ſeiner ſelbſt in ſeine edle Seele zu athmen! Kann ich's nicht, kann's die unvergleichliche Fuͤrſtinn, von der jedes, auch das beſte, Portraͤt Carrikatur, jede, auch die ſchlechteſte, Carrikatur aber nicht vermoͤgend waͤre, alle Guͤte auszuloͤſchen, die mit dieſer Fuͤlle auf ein Menſchengeſicht, auf eine ganze Menſchengeſtalt ausgegoſſen iſt! Aber noch hab ich nichts von der Nathanaelsſeele des Mediciners geſagt, von dem du auf dieſem Blatte ein ſchwaches Bild findeſt. — Sein Blick iſt nicht eines tief aufgrabenden Erforſchers! Aber Blick dennoch eines gluͤcklichen freyen Genies! die gerade, freye, unverſtellte, und dennoch uͤberlegungsreiche Seele; dieß

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/304>, abgerufen am 24.11.2024.