Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten "Der weiseste Mann sieht gerade so aus, wie ein Dummkopf, wenn er Langeweile Und wie erstaunlich können, um aus hundert Beyspielen ein sehr gemeines anzufüh- Von den Schwierigkeiten, womit die feine Verstellungskunst den geübtesten Beobach- Aber, noch eins darf nicht verschwiegen werden. Der beste, der stärkste, der philosophischste Physiognomist ist immer Mensch; das Er kann sich, wie selten erwehren, alles, was er ansieht, in einer gewissen Beziehung Also wollen wir hier dem Zweifler an der Physiognomik so viel zugeben, als er will -- Wie kann ich übrigens dieß Fragment beschließen, ohne noch die mir schwer auf dem "Daß
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten „Der weiſeſte Mann ſieht gerade ſo aus, wie ein Dummkopf, wenn er Langeweile Und wie erſtaunlich koͤnnen, um aus hundert Beyſpielen ein ſehr gemeines anzufuͤh- Von den Schwierigkeiten, womit die feine Verſtellungskunſt den geuͤbteſten Beobach- Aber, noch eins darf nicht verſchwiegen werden. Der beſte, der ſtaͤrkſte, der philoſophiſchſte Phyſiognomiſt iſt immer Menſch; das Er kann ſich, wie ſelten erwehren, alles, was er anſieht, in einer gewiſſen Beziehung Alſo wollen wir hier dem Zweifler an der Phyſiognomik ſo viel zugeben, als er will — Wie kann ich uͤbrigens dieß Fragment beſchließen, ohne noch die mir ſchwer auf dem „Daß
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XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
„Der weiſeſte Mann ſieht gerade ſo aus, wie ein Dummkopf, wenn er Langeweile
„hat.“ — ſagt Zimmermann, und er mag recht haben, wenn er ſein Augenmerk blos auf
die actuelle Lage der beweglichen und muskuloͤſen Theile ſeines Angeſichts richtet —
Und wie erſtaunlich koͤnnen, um aus hundert Beyſpielen ein ſehr gemeines anzufuͤh-
ren, die Blattern ein Geſicht vielleicht auf Lebenslang verunſtalten? wie die feinſten, entſchei-
dendſten Zuͤge verziehen, verwickeln und unkenntlich machen?
Von den Schwierigkeiten, womit die feine Verſtellungskunſt den geuͤbteſten Beobach-
ter umringt, will ich nichts ſagen; ein beſonders Fragment wird vielleicht ein Woͤrtchen da-
von melden.
Aber, noch eins darf nicht verſchwiegen werden.
Der beſte, der ſtaͤrkſte, der philoſophiſchſte Phyſiognomiſt iſt immer Menſch; das
heißt hier nicht nur uͤberhaupt: er fehlt, und kann nicht anders, als fehlen; ſondern, es heißt:
Es iſt ein partheyiſcher Menſch, und er ſollte unpartheyiſch, wie Gott ſeyn?
Er kann ſich, wie ſelten erwehren, alles, was er anſieht, in einer gewiſſen Beziehung
auf ſich ſelbſt, ſeine Lieblingsneigung, oder Abneigung anzuſehen, und zu beurtheilen. Dunkle
Erinnerungen an dieß oder jenes Vergnuͤgen oder Mißvergnuͤgen, welche dieſe oder jene Phy-
ſiognomie durch dieſe oder jene Nebenumſtaͤnde und Zufaͤlligkeiten in ſeinem Gemuͤthe erweckt;
Eindruͤcke, die ein Gegenſtand ſeiner Liebe oder ſeines Haſſes in ſeiner Einbildungskraft zuruͤck-
gelaſſen haben mag — wie leicht koͤnnen dieſe, wie nothwendig muͤſſen dieſe auf ſeine Beob-
achtungen und Urtheile Einfluß haben! Und wie viele Schwierigkeiten muͤſſen daher fuͤr die
Phyſiognomik erwachſen — ſo lange die Phyſiognomik von Menſchen, und nicht von Engeln
gelehrt wird!
Alſo wollen wir hier dem Zweifler an der Phyſiognomik ſo viel zugeben, als er will —
aber dennoch hoffen wir, daß ſich in der Folge manche Schwierigkeit aufloͤſen werde, die An-
fangs dem Leſer, und vielleicht auch dem Verfaſſer, unaufloͤslich ſcheinen mußte.
Wie kann ich uͤbrigens dieß Fragment beſchließen, ohne noch die mir ſchwer auf dem
Herzen liegende Beſorgniß, wovon ich vielleicht auch ſchon etwas zu verſtehen gegeben habe,
abzuladen —
„Daß
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