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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
merkbarkeit wieder verschwindet, ehe sie den gehörigen Eindruck auf euch gemacht hat; und,
wenn auch dieß geschehen ist, so kann dieser Zug so schwer zu fassen, und ganz unmöglich mit
dem Pinsel, geschweige mit dem Grabstichel und mit Worten, auszudrücken seyn.

Dieß kann oft so gar mit den bleibendsten und gewissermaßen entscheidendsten und zuver-
läßigsten Merkmalen geschehen. Unzählige dieser Art, lassen sich weder beschreiben, noch nachma-
chen, und sehr viele nicht einmal mit der Einbildungskraft sich festhalten. Jhr fühlet sie mehr,
als daß ihr sie sehet. Den sanfterleuchtenden, den wärmenden Lichtstral, wer will ihn beschrei-
ben? wer zeichnen? -- Wer sieht ihn nur? und wer, wer kann z. E. den Blick der Liebe --
das sanfte Zittern des wohlwollenden segnenden Auges, wer das Licht oder die Dämmerung
der Sehnsucht und Hoffnung, wer die feinen Züge der uneigennützigen, ruhigen Zärtlichkeit,
wer das innige, mächtige, in Demuth und Sanftmuth gehüllte Dringen des Geistes, um sich
her Gutes zu wirken, des Elendes weniger, und der Freuden in der Welt und Nachwelt mehr
zu machen; wer -- alle die geheimen in einen Blick zusammenfließenden Triebe und Kräfte
eines Vertheidigers, oder eines Feindes der Wahrheit; eines rettenden Menschenfreundes oder
eines schlauen Antipatrioten, wer -- den auf und niederschauenden, mächtigumfassenden, tief-
dringenden Blitzblick des Genies, der weit und schnell um sich her erhellt, blendet, zittern macht,
und tiefe Nacht hinter sich zurückläßt, wer kann dieses alles beschreiben oder zeichnen? -- Wer
Feuer mit der Kohle, Licht mit Bleystift, mit Erde und Oel Leben, darstellen?

Es ist mit der Physiognomie, wie mit allen Gegenständen des menschlichen Geschma-
ckes, vom crassesten an bis auf den geistigsten; vom Speisegeschmack bis zum Geschmack an
der göttlichsten Wahrheit! Man kann empfinden, aber nicht ausdrücken -- Das Wesen jedes
organischen Körpers ist an sich selbst unsichtbare Kraft! Das ist Geist! Ohne dieß unerforschliche
Belebende ist alles todt und ohne Bedeutung, Kraft, Einwirkung. Und den Geist siehet die
Welt nicht und kennet ihn nicht.
O wie wahr ist dieß, wie's nun immer kalt oder warm,
in Paragraphen oder Deklamationen ausgedrückt werden mag, wie wahr ist dieß, vom erhaben-
sten göttlichen Geist an in der Person, den Jüngern und dem Evangelio, unsers großen Herrn
bis auf den Geist des gemeinsten Objectes: die Welt siehet Jhn nicht, und kennet Jhn
nicht.
Es ist dieß der allgemeinste Satz, der ausgesprochen werden kann. Der große Haufe

der

XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
merkbarkeit wieder verſchwindet, ehe ſie den gehoͤrigen Eindruck auf euch gemacht hat; und,
wenn auch dieß geſchehen iſt, ſo kann dieſer Zug ſo ſchwer zu faſſen, und ganz unmoͤglich mit
dem Pinſel, geſchweige mit dem Grabſtichel und mit Worten, auszudruͤcken ſeyn.

Dieß kann oft ſo gar mit den bleibendſten und gewiſſermaßen entſcheidendſten und zuver-
laͤßigſten Merkmalen geſchehen. Unzaͤhlige dieſer Art, laſſen ſich weder beſchreiben, noch nachma-
chen, und ſehr viele nicht einmal mit der Einbildungskraft ſich feſthalten. Jhr fuͤhlet ſie mehr,
als daß ihr ſie ſehet. Den ſanfterleuchtenden, den waͤrmenden Lichtſtral, wer will ihn beſchrei-
ben? wer zeichnen? — Wer ſieht ihn nur? und wer, wer kann z. E. den Blick der Liebe —
das ſanfte Zittern des wohlwollenden ſegnenden Auges, wer das Licht oder die Daͤmmerung
der Sehnſucht und Hoffnung, wer die feinen Zuͤge der uneigennuͤtzigen, ruhigen Zaͤrtlichkeit,
wer das innige, maͤchtige, in Demuth und Sanftmuth gehuͤllte Dringen des Geiſtes, um ſich
her Gutes zu wirken, des Elendes weniger, und der Freuden in der Welt und Nachwelt mehr
zu machen; wer — alle die geheimen in einen Blick zuſammenfließenden Triebe und Kraͤfte
eines Vertheidigers, oder eines Feindes der Wahrheit; eines rettenden Menſchenfreundes oder
eines ſchlauen Antipatrioten, wer — den auf und niederſchauenden, maͤchtigumfaſſenden, tief-
dringenden Blitzblick des Genies, der weit und ſchnell um ſich her erhellt, blendet, zittern macht,
und tiefe Nacht hinter ſich zuruͤcklaͤßt, wer kann dieſes alles beſchreiben oder zeichnen? — Wer
Feuer mit der Kohle, Licht mit Bleyſtift, mit Erde und Oel Leben, darſtellen?

Es iſt mit der Phyſiognomie, wie mit allen Gegenſtaͤnden des menſchlichen Geſchma-
ckes, vom craſſeſten an bis auf den geiſtigſten; vom Speiſegeſchmack bis zum Geſchmack an
der goͤttlichſten Wahrheit! Man kann empfinden, aber nicht ausdruͤcken — Das Weſen jedes
organiſchen Koͤrpers iſt an ſich ſelbſt unſichtbare Kraft! Das iſt Geiſt! Ohne dieß unerforſchliche
Belebende iſt alles todt und ohne Bedeutung, Kraft, Einwirkung. Und den Geiſt ſiehet die
Welt nicht und kennet ihn nicht.
O wie wahr iſt dieß, wie's nun immer kalt oder warm,
in Paragraphen oder Deklamationen ausgedruͤckt werden mag, wie wahr iſt dieß, vom erhaben-
ſten goͤttlichen Geiſt an in der Perſon, den Juͤngern und dem Evangelio, unſers großen Herrn
bis auf den Geiſt des gemeinſten Objectes: die Welt ſiehet Jhn nicht, und kennet Jhn
nicht.
Es iſt dieß der allgemeinſte Satz, der ausgeſprochen werden kann. Der große Haufe

der
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[144/0212] XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten merkbarkeit wieder verſchwindet, ehe ſie den gehoͤrigen Eindruck auf euch gemacht hat; und, wenn auch dieß geſchehen iſt, ſo kann dieſer Zug ſo ſchwer zu faſſen, und ganz unmoͤglich mit dem Pinſel, geſchweige mit dem Grabſtichel und mit Worten, auszudruͤcken ſeyn. Dieß kann oft ſo gar mit den bleibendſten und gewiſſermaßen entſcheidendſten und zuver- laͤßigſten Merkmalen geſchehen. Unzaͤhlige dieſer Art, laſſen ſich weder beſchreiben, noch nachma- chen, und ſehr viele nicht einmal mit der Einbildungskraft ſich feſthalten. Jhr fuͤhlet ſie mehr, als daß ihr ſie ſehet. Den ſanfterleuchtenden, den waͤrmenden Lichtſtral, wer will ihn beſchrei- ben? wer zeichnen? — Wer ſieht ihn nur? und wer, wer kann z. E. den Blick der Liebe — das ſanfte Zittern des wohlwollenden ſegnenden Auges, wer das Licht oder die Daͤmmerung der Sehnſucht und Hoffnung, wer die feinen Zuͤge der uneigennuͤtzigen, ruhigen Zaͤrtlichkeit, wer das innige, maͤchtige, in Demuth und Sanftmuth gehuͤllte Dringen des Geiſtes, um ſich her Gutes zu wirken, des Elendes weniger, und der Freuden in der Welt und Nachwelt mehr zu machen; wer — alle die geheimen in einen Blick zuſammenfließenden Triebe und Kraͤfte eines Vertheidigers, oder eines Feindes der Wahrheit; eines rettenden Menſchenfreundes oder eines ſchlauen Antipatrioten, wer — den auf und niederſchauenden, maͤchtigumfaſſenden, tief- dringenden Blitzblick des Genies, der weit und ſchnell um ſich her erhellt, blendet, zittern macht, und tiefe Nacht hinter ſich zuruͤcklaͤßt, wer kann dieſes alles beſchreiben oder zeichnen? — Wer Feuer mit der Kohle, Licht mit Bleyſtift, mit Erde und Oel Leben, darſtellen? Es iſt mit der Phyſiognomie, wie mit allen Gegenſtaͤnden des menſchlichen Geſchma- ckes, vom craſſeſten an bis auf den geiſtigſten; vom Speiſegeſchmack bis zum Geſchmack an der goͤttlichſten Wahrheit! Man kann empfinden, aber nicht ausdruͤcken — Das Weſen jedes organiſchen Koͤrpers iſt an ſich ſelbſt unſichtbare Kraft! Das iſt Geiſt! Ohne dieß unerforſchliche Belebende iſt alles todt und ohne Bedeutung, Kraft, Einwirkung. Und den Geiſt ſiehet die Welt nicht und kennet ihn nicht. O wie wahr iſt dieß, wie's nun immer kalt oder warm, in Paragraphen oder Deklamationen ausgedruͤckt werden mag, wie wahr iſt dieß, vom erhaben- ſten goͤttlichen Geiſt an in der Perſon, den Juͤngern und dem Evangelio, unſers großen Herrn bis auf den Geiſt des gemeinſten Objectes: die Welt ſiehet Jhn nicht, und kennet Jhn nicht. Es iſt dieß der allgemeinſte Satz, der ausgeſprochen werden kann. Der große Haufe der

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/212>, abgerufen am 21.11.2024.