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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie
"mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.
"Wie ist es möglich, es zu mahlen und zu beschreiben? Die Kunst selbst müßte mir rathen,
"und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, kräftig auszuführen.
"Jch lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die
"Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie krönen wollten, nicht erreichen
"konnten. Der Begriff eines Apollo auf der Jagd, welchen Herr Spence in dieser Statue
"finden will, reimet sich nicht mit dem Ausdrucke des Gesichts."

Jch habe diesen Kopf des Apollo zweymal nach dem Schatten und hernach vermittelst
des Storchschnabels ins Kleine gezeichnet, und ich glaube dadurch etwas zur Bestätigung
des Winkelmannischen Gefühls beytragen zu können. Man kann sich wirklich an diesem bloßen
Umrisse kaum satt sehen. -- Man will was drüber sagen, zittert -- und was man sagt, ist uner-
träglich. Aus allem diesem verworrenen Gedränge kann indessen dieses heraus gehoben werden --

Die Erhabenheit beruhet auf der Stirne --

Auf dem Verhältniß der Stirne zum ganzen Gesicht;

Auf der Schiefheit der Stirne -- Gegen den Untertheil des Gesichts betrachtet.

Auf dem Fortgange der Stirn in die Nase --

Auf dem nicht harten und nicht weichlichen Kinn, das sich so männlich hervorhebt --
und auf dem Fortgange des Kinns zum Halse.
Jch glaube, daß wenn der Umriß der Nase eine vollkommen gerade Linie wäre, noch mehr
edle Stärke, göttliche Stärke aus diesem Profile sprechen würde. Jede Conca-
vität der Nase im Profilumriß ist immer Zeichen irgend einer Schwäche, wenigstens
physischer. Convexität würde dem Adel, der jugendlichen Männlichkeit, der Erha-
benheit schaden.

Der untere Umriß der Nase, gegen die Oberlippe hat mehr Güte, als Größe. Wer
die Mühe nehmen mag, diese zwey Profile zu vergleichen, der wird sich überzeugen, daß die
geringsten Züge, die kaum merkbarste Krümmung oder Biegung, die Physiognomie verän-
dern; -- wie klein ist der Unterschied des Umrisses der obern und untern Nase -- und dieser
kleine Unterschied, wie sehr verändert er den Eindruck! Wie klein der Unterschied des Umrisses

von

IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie
„mein Bild ſcheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schoͤnheit.
„Wie iſt es moͤglich, es zu mahlen und zu beſchreiben? Die Kunſt ſelbſt muͤßte mir rathen,
„und die Hand leiten, die erſten Zuͤge, welche ich hier entworfen habe, kraͤftig auszufuͤhren.
„Jch lege den Begriff, welchen ich von dieſem Bilde gegeben habe, zu deſſen Fuͤßen, wie die
„Kraͤnze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche ſie kroͤnen wollten, nicht erreichen
„konnten. Der Begriff eines Apollo auf der Jagd, welchen Herr Spence in dieſer Statue
„finden will, reimet ſich nicht mit dem Ausdrucke des Geſichts.“

Jch habe dieſen Kopf des Apollo zweymal nach dem Schatten und hernach vermittelſt
des Storchſchnabels ins Kleine gezeichnet, und ich glaube dadurch etwas zur Beſtaͤtigung
des Winkelmanniſchen Gefuͤhls beytragen zu koͤnnen. Man kann ſich wirklich an dieſem bloßen
Umriſſe kaum ſatt ſehen. — Man will was druͤber ſagen, zittert — und was man ſagt, iſt uner-
traͤglich. Aus allem dieſem verworrenen Gedraͤnge kann indeſſen dieſes heraus gehoben werden —

Die Erhabenheit beruhet auf der Stirne —

Auf dem Verhaͤltniß der Stirne zum ganzen Geſicht;

Auf der Schiefheit der Stirne — Gegen den Untertheil des Geſichts betrachtet.

Auf dem Fortgange der Stirn in die Naſe —

Auf dem nicht harten und nicht weichlichen Kinn, das ſich ſo maͤnnlich hervorhebt —
und auf dem Fortgange des Kinns zum Halſe.
Jch glaube, daß wenn der Umriß der Naſe eine vollkommen gerade Linie waͤre, noch mehr
edle Staͤrke, goͤttliche Staͤrke aus dieſem Profile ſprechen wuͤrde. Jede Conca-
vitaͤt der Naſe im Profilumriß iſt immer Zeichen irgend einer Schwaͤche, wenigſtens
phyſiſcher. Convexitaͤt wuͤrde dem Adel, der jugendlichen Maͤnnlichkeit, der Erha-
benheit ſchaden.

Der untere Umriß der Naſe, gegen die Oberlippe hat mehr Guͤte, als Groͤße. Wer
die Muͤhe nehmen mag, dieſe zwey Profile zu vergleichen, der wird ſich uͤberzeugen, daß die
geringſten Zuͤge, die kaum merkbarſte Kruͤmmung oder Biegung, die Phyſiognomie veraͤn-
dern; — wie klein iſt der Unterſchied des Umriſſes der obern und untern Naſe — und dieſer
kleine Unterſchied, wie ſehr veraͤndert er den Eindruck! Wie klein der Unterſchied des Umriſſes

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[134/0202] IX. Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie „mein Bild ſcheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schoͤnheit. „Wie iſt es moͤglich, es zu mahlen und zu beſchreiben? Die Kunſt ſelbſt muͤßte mir rathen, „und die Hand leiten, die erſten Zuͤge, welche ich hier entworfen habe, kraͤftig auszufuͤhren. „Jch lege den Begriff, welchen ich von dieſem Bilde gegeben habe, zu deſſen Fuͤßen, wie die „Kraͤnze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche ſie kroͤnen wollten, nicht erreichen „konnten. Der Begriff eines Apollo auf der Jagd, welchen Herr Spence in dieſer Statue „finden will, reimet ſich nicht mit dem Ausdrucke des Geſichts.“ Jch habe dieſen Kopf des Apollo zweymal nach dem Schatten und hernach vermittelſt des Storchſchnabels ins Kleine gezeichnet, und ich glaube dadurch etwas zur Beſtaͤtigung des Winkelmanniſchen Gefuͤhls beytragen zu koͤnnen. Man kann ſich wirklich an dieſem bloßen Umriſſe kaum ſatt ſehen. — Man will was druͤber ſagen, zittert — und was man ſagt, iſt uner- traͤglich. Aus allem dieſem verworrenen Gedraͤnge kann indeſſen dieſes heraus gehoben werden — Die Erhabenheit beruhet auf der Stirne — Auf dem Verhaͤltniß der Stirne zum ganzen Geſicht; Auf der Schiefheit der Stirne — Gegen den Untertheil des Geſichts betrachtet. Auf dem Fortgange der Stirn in die Naſe — Auf dem nicht harten und nicht weichlichen Kinn, das ſich ſo maͤnnlich hervorhebt — und auf dem Fortgange des Kinns zum Halſe. Jch glaube, daß wenn der Umriß der Naſe eine vollkommen gerade Linie waͤre, noch mehr edle Staͤrke, goͤttliche Staͤrke aus dieſem Profile ſprechen wuͤrde. Jede Conca- vitaͤt der Naſe im Profilumriß iſt immer Zeichen irgend einer Schwaͤche, wenigſtens phyſiſcher. Convexitaͤt wuͤrde dem Adel, der jugendlichen Maͤnnlichkeit, der Erha- benheit ſchaden. Der untere Umriß der Naſe, gegen die Oberlippe hat mehr Guͤte, als Groͤße. Wer die Muͤhe nehmen mag, dieſe zwey Profile zu vergleichen, der wird ſich uͤberzeugen, daß die geringſten Zuͤge, die kaum merkbarſte Kruͤmmung oder Biegung, die Phyſiognomie veraͤn- dern; — wie klein iſt der Unterſchied des Umriſſes der obern und untern Naſe — und dieſer kleine Unterſchied, wie ſehr veraͤndert er den Eindruck! Wie klein der Unterſchied des Umriſſes von

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/202>, abgerufen am 24.11.2024.