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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
gend sollte nicht nur gefällig seyn, sie sollte schön, nicht nur simpel, sie sollte zugleich auch er-
haben seyn. Action, Stellung, Haar u. s. f. sollten freylich ihre Schönheit vermehren -- aber
nicht ihre ganze Schönheit ausmachen. Sie soll ohne Action, soll in jeglicher Stellung, soll
an sich in ihren Zügen, ihrem Umrisse schön seyn, und schöner als die reizendste Wollust, ob-
gleich ihre Schönheit weniger auffallen und mehr gesucht, mehr gefunden werden soll, als daß
sie sich aufdringen dürfte; sie soll (wer die Meisterstücke der alten Kunst im Urbilde gesehen
hat, wird mich verstehen) gegen die Wollust das seyn, was Niobe gegen die Medicäische
Venus ist. Und, was Winkelmann von andern Werken der Kunst sagt, wie viel mehr
gilt's von der Tugend, und allegorischen Bildern derselben: "Es ist nicht genug, daß sie gefal-
"len: sie müssen beständig gefallen." Das Bild der Tugend sollte gefallen, und immer
mehr gefallen, was sag' ich gefallen? anziehen, umfassen, verschlingen, bezaubern, je mehr es
angesehen wird. Und nun gerad umgekehrt. Es gefällt anfangs nicht genug, und gefällt
immer weniger, je mehr es betrachtet wird. Es soll ein griechisches Profil seyn; mich dünkt's
immer ein ziemlich gemeines. Die Schönheit des Profils beruhet doch nicht auf dieser geraden
Linie! beruhet auf der sanften Wellenlinie von Stirn und Nase, und auf der Proportion der-
selben zum Untertheile des Gesichtes: und was hilft dieß alles, wenn die einzelnen Theile des
Gesichtes beynahe unbedeutend und seelenlos sind? Die Stirne ist so gemein, wie möglich; die
Augbraunen ist zu hoch über dem Auge, zu unbestimmt, zu kurz; drey Fehler, deren jeder für
sich einem Bilde Schönheit und Character raubt; Character der Tugend! die Tugend, (virtus,
arete) was ist sie im Grund anders, als Kraft gegen Widerstand? Güte ohne Kraft, De-
muth ohne Muth, Keuschheit ohne feine Empfindlichkeit wird nie Tugend seyn! Jhr Wesen
ist Kraft gegen andre Kraft! Uebergewicht, Sieg nützlicher Kraft über schädliche. Man kann
fromm seyn, man kann die zärtlichsten Empfindungen haben, ohne deswegen im mindesten tu-
gendhaft zu seyn. Es giebt immer zehen Fromme, und zwanzig Sentimentalisten ohne Tugend
gegen Einen wirklich Tugendhaften. Tugend ist moralische Kraft gegen sinnliche; Festhalten un-
sichtbarer Pflicht beym Reize sichtbarer Schädlichkeiten. -- Nun, um wieder einzulenken, wo drückt
sich die Kraft eines Menschen so bestimmt und unverstellbar aus, als in den Augenbraunen?
Wer diese in einem Gemählde oder einer Zeichnung vernachläßigt, hat weder Auge, noch Beob-

achtungs-

IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
gend ſollte nicht nur gefaͤllig ſeyn, ſie ſollte ſchoͤn, nicht nur ſimpel, ſie ſollte zugleich auch er-
haben ſeyn. Action, Stellung, Haar u. ſ. f. ſollten freylich ihre Schoͤnheit vermehren — aber
nicht ihre ganze Schoͤnheit ausmachen. Sie ſoll ohne Action, ſoll in jeglicher Stellung, ſoll
an ſich in ihren Zuͤgen, ihrem Umriſſe ſchoͤn ſeyn, und ſchoͤner als die reizendſte Wolluſt, ob-
gleich ihre Schoͤnheit weniger auffallen und mehr geſucht, mehr gefunden werden ſoll, als daß
ſie ſich aufdringen duͤrfte; ſie ſoll (wer die Meiſterſtuͤcke der alten Kunſt im Urbilde geſehen
hat, wird mich verſtehen) gegen die Wolluſt das ſeyn, was Niobe gegen die Medicaͤiſche
Venus iſt. Und, was Winkelmann von andern Werken der Kunſt ſagt, wie viel mehr
gilt's von der Tugend, und allegoriſchen Bildern derſelben: „Es iſt nicht genug, daß ſie gefal-
„len: ſie muͤſſen beſtaͤndig gefallen.“ Das Bild der Tugend ſollte gefallen, und immer
mehr gefallen, was ſag' ich gefallen? anziehen, umfaſſen, verſchlingen, bezaubern, je mehr es
angeſehen wird. Und nun gerad umgekehrt. Es gefaͤllt anfangs nicht genug, und gefaͤllt
immer weniger, je mehr es betrachtet wird. Es ſoll ein griechiſches Profil ſeyn; mich duͤnkt's
immer ein ziemlich gemeines. Die Schoͤnheit des Profils beruhet doch nicht auf dieſer geraden
Linie! beruhet auf der ſanften Wellenlinie von Stirn und Naſe, und auf der Proportion der-
ſelben zum Untertheile des Geſichtes: und was hilft dieß alles, wenn die einzelnen Theile des
Geſichtes beynahe unbedeutend und ſeelenlos ſind? Die Stirne iſt ſo gemein, wie moͤglich; die
Augbraunen iſt zu hoch uͤber dem Auge, zu unbeſtimmt, zu kurz; drey Fehler, deren jeder fuͤr
ſich einem Bilde Schoͤnheit und Character raubt; Character der Tugend! die Tugend, (virtus,
ἀρετη) was iſt ſie im Grund anders, als Kraft gegen Widerſtand? Guͤte ohne Kraft, De-
muth ohne Muth, Keuſchheit ohne feine Empfindlichkeit wird nie Tugend ſeyn! Jhr Weſen
iſt Kraft gegen andre Kraft! Uebergewicht, Sieg nuͤtzlicher Kraft uͤber ſchaͤdliche. Man kann
fromm ſeyn, man kann die zaͤrtlichſten Empfindungen haben, ohne deswegen im mindeſten tu-
gendhaft zu ſeyn. Es giebt immer zehen Fromme, und zwanzig Sentimentaliſten ohne Tugend
gegen Einen wirklich Tugendhaften. Tugend iſt moraliſche Kraft gegen ſinnliche; Feſthalten un-
ſichtbarer Pflicht beym Reize ſichtbarer Schaͤdlichkeiten. — Nun, um wieder einzulenken, wo druͤckt
ſich die Kraft eines Menſchen ſo beſtimmt und unverſtellbar aus, als in den Augenbraunen?
Wer dieſe in einem Gemaͤhlde oder einer Zeichnung vernachlaͤßigt, hat weder Auge, noch Beob-

achtungs-
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[128/0194] IX. Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie gend ſollte nicht nur gefaͤllig ſeyn, ſie ſollte ſchoͤn, nicht nur ſimpel, ſie ſollte zugleich auch er- haben ſeyn. Action, Stellung, Haar u. ſ. f. ſollten freylich ihre Schoͤnheit vermehren — aber nicht ihre ganze Schoͤnheit ausmachen. Sie ſoll ohne Action, ſoll in jeglicher Stellung, ſoll an ſich in ihren Zuͤgen, ihrem Umriſſe ſchoͤn ſeyn, und ſchoͤner als die reizendſte Wolluſt, ob- gleich ihre Schoͤnheit weniger auffallen und mehr geſucht, mehr gefunden werden ſoll, als daß ſie ſich aufdringen duͤrfte; ſie ſoll (wer die Meiſterſtuͤcke der alten Kunſt im Urbilde geſehen hat, wird mich verſtehen) gegen die Wolluſt das ſeyn, was Niobe gegen die Medicaͤiſche Venus iſt. Und, was Winkelmann von andern Werken der Kunſt ſagt, wie viel mehr gilt's von der Tugend, und allegoriſchen Bildern derſelben: „Es iſt nicht genug, daß ſie gefal- „len: ſie muͤſſen beſtaͤndig gefallen.“ Das Bild der Tugend ſollte gefallen, und immer mehr gefallen, was ſag' ich gefallen? anziehen, umfaſſen, verſchlingen, bezaubern, je mehr es angeſehen wird. Und nun gerad umgekehrt. Es gefaͤllt anfangs nicht genug, und gefaͤllt immer weniger, je mehr es betrachtet wird. Es ſoll ein griechiſches Profil ſeyn; mich duͤnkt's immer ein ziemlich gemeines. Die Schoͤnheit des Profils beruhet doch nicht auf dieſer geraden Linie! beruhet auf der ſanften Wellenlinie von Stirn und Naſe, und auf der Proportion der- ſelben zum Untertheile des Geſichtes: und was hilft dieß alles, wenn die einzelnen Theile des Geſichtes beynahe unbedeutend und ſeelenlos ſind? Die Stirne iſt ſo gemein, wie moͤglich; die Augbraunen iſt zu hoch uͤber dem Auge, zu unbeſtimmt, zu kurz; drey Fehler, deren jeder fuͤr ſich einem Bilde Schoͤnheit und Character raubt; Character der Tugend! die Tugend, (virtus, ἀρετη) was iſt ſie im Grund anders, als Kraft gegen Widerſtand? Guͤte ohne Kraft, De- muth ohne Muth, Keuſchheit ohne feine Empfindlichkeit wird nie Tugend ſeyn! Jhr Weſen iſt Kraft gegen andre Kraft! Uebergewicht, Sieg nuͤtzlicher Kraft uͤber ſchaͤdliche. Man kann fromm ſeyn, man kann die zaͤrtlichſten Empfindungen haben, ohne deswegen im mindeſten tu- gendhaft zu ſeyn. Es giebt immer zehen Fromme, und zwanzig Sentimentaliſten ohne Tugend gegen Einen wirklich Tugendhaften. Tugend iſt moraliſche Kraft gegen ſinnliche; Feſthalten un- ſichtbarer Pflicht beym Reize ſichtbarer Schaͤdlichkeiten. — Nun, um wieder einzulenken, wo druͤckt ſich die Kraft eines Menſchen ſo beſtimmt und unverſtellbar aus, als in den Augenbraunen? Wer dieſe in einem Gemaͤhlde oder einer Zeichnung vernachlaͤßigt, hat weder Auge, noch Beob- achtungs-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/194>, abgerufen am 24.11.2024.