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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.

O Leser! -- glaub mir's, du wirst's erfahren und empfinden: ich vergesse dich am
wenigsten, wenn ich dich am meisten zu vergessen scheine; und am Ende -- wenn wir Rech-
nung mit einander halten, wirst du finden -- daß manche kalte Beobachtung dir übrig bleibt, die
ich dir allenfalls mit Wärme vorgetragen -- denn wirklich, brüderlicher Leser, die Forderung wä-
re doch unbillig -- "Sey warm und sprich kalt" -- unbillig die Forderung. "Jch bin kalt, sey
"du's auch." -- Ein Goldstück, das in meiner Hand warm worden ist, und in der deinigen kalt
wird -- bleibt immer dasselbe Goldstück, und ich sehe nicht, mit welchem Recht du's ihm vorwer-
fen könntest -- "Warum bist du wärmer in seiner, als in meiner Hand" -- Also sind wir nun
ein für allemal hierüber einverstanden. Jch schreibe, wie ich denk' und empfinde, und du liesests,
wie du's lesen kannst. -- Und nun auf unsern Raphaelischen Kopf zurück!

Es ist kein Erhabener über die Sphäre der Menschheit; aber es ist eine überaus edle, freye,
männliche große Seele, voll Gesundheit und Ruhe: durch keine versengende oder erschlappende
Leidenschaft entstellt; voll Leben ohne Ueppigkeit; voll Klugheit, ohne flammende Einbildungskraft,
vielleicht nicht Allmacht des Genies; -- aber weit erhaben über alle Dummheit und Niederträch-
tigkeit -- Schon die Wendung ist keiner stüpiden oder kriechenden Seele natürlicher Weise möglich.
Keiner Falschheit fähig, -- verachtet dieß edle Gesicht jede Verführung zur Ungerechtigkeit. Es
könnte allenfalls ein Joseph seyn, der ohne Grimmasse affectirter oder in der Schule gelernter
Frömmigkeit mehr dächt' als spräche: "Wie sollt ich ein solch Uebel thun, und wider Gott sündi-
"gen?" Solch einen Ernst ohne alle Verzerrung, solch eine offne Entschlossenheit gegen das La-
ster; solch eine Kraft ohne Steifigkeit; solch eine Festigkeit mit dieser Schlankheit; -- solch eine
Freyheit mit dieser Herrschaft über sich selbst; solch eine unbewölkte Stirn; solch eine Einfachheit
des Characters -- O Gott! wie wünsch ich mir diese umsonst! -- Umsonst? Ja, ich soll mir
vielleicht diese nicht wünschen! -- Soll nicht wünschen, ein anderer zu werden, als ich bin; --
nur das zu werden, was ich werden kann! Jch will keine andere Augen, als ich habe; keine
andre Stirn; keinen andern Mund -- Nur diese Stirn, diese Augen und diesen Mund durch
die Weisheit und die Tugend, deren ich in diesen Gliedern fähig bin, so zu formen, so zu veredeln
suchen, daß Gottes Ebenbild in mir nicht verkennt werde.

Achtzehnte
Phys. Fragm. I. Versuch. R
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.

O Leſer! — glaub mir's, du wirſt's erfahren und empfinden: ich vergeſſe dich am
wenigſten, wenn ich dich am meiſten zu vergeſſen ſcheine; und am Ende — wenn wir Rech-
nung mit einander halten, wirſt du finden — daß manche kalte Beobachtung dir uͤbrig bleibt, die
ich dir allenfalls mit Waͤrme vorgetragen — denn wirklich, bruͤderlicher Leſer, die Forderung waͤ-
re doch unbillig — „Sey warm und ſprich kalt“ — unbillig die Forderung. „Jch bin kalt, ſey
„du's auch.“ — Ein Goldſtuͤck, das in meiner Hand warm worden iſt, und in der deinigen kalt
wird — bleibt immer daſſelbe Goldſtuͤck, und ich ſehe nicht, mit welchem Recht du's ihm vorwer-
fen koͤnnteſt — „Warum biſt du waͤrmer in ſeiner, als in meiner Hand“ — Alſo ſind wir nun
ein fuͤr allemal hieruͤber einverſtanden. Jch ſchreibe, wie ich denk' und empfinde, und du lieſeſts,
wie du's leſen kannſt. — Und nun auf unſern Raphaeliſchen Kopf zuruͤck!

Es iſt kein Erhabener uͤber die Sphaͤre der Menſchheit; aber es iſt eine uͤberaus edle, freye,
maͤnnliche große Seele, voll Geſundheit und Ruhe: durch keine verſengende oder erſchlappende
Leidenſchaft entſtellt; voll Leben ohne Ueppigkeit; voll Klugheit, ohne flammende Einbildungskraft,
vielleicht nicht Allmacht des Genies; — aber weit erhaben uͤber alle Dummheit und Niedertraͤch-
tigkeit — Schon die Wendung iſt keiner ſtuͤpiden oder kriechenden Seele natuͤrlicher Weiſe moͤglich.
Keiner Falſchheit faͤhig, — verachtet dieß edle Geſicht jede Verfuͤhrung zur Ungerechtigkeit. Es
koͤnnte allenfalls ein Joſeph ſeyn, der ohne Grimmaſſe affectirter oder in der Schule gelernter
Froͤmmigkeit mehr daͤcht' als ſpraͤche: „Wie ſollt ich ein ſolch Uebel thun, und wider Gott ſuͤndi-
„gen?“ Solch einen Ernſt ohne alle Verzerrung, ſolch eine offne Entſchloſſenheit gegen das La-
ſter; ſolch eine Kraft ohne Steifigkeit; ſolch eine Feſtigkeit mit dieſer Schlankheit; — ſolch eine
Freyheit mit dieſer Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt; ſolch eine unbewoͤlkte Stirn; ſolch eine Einfachheit
des Characters — O Gott! wie wuͤnſch ich mir dieſe umſonſt! — Umſonſt? Ja, ich ſoll mir
vielleicht dieſe nicht wuͤnſchen! — Soll nicht wuͤnſchen, ein anderer zu werden, als ich bin; —
nur das zu werden, was ich werden kann! Jch will keine andere Augen, als ich habe; keine
andre Stirn; keinen andern Mund — Nur dieſe Stirn, dieſe Augen und dieſen Mund durch
die Weisheit und die Tugend, deren ich in dieſen Gliedern faͤhig bin, ſo zu formen, ſo zu veredeln
ſuchen, daß Gottes Ebenbild in mir nicht verkennt werde.

Achtzehnte
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. R
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[121/0181] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. O Leſer! — glaub mir's, du wirſt's erfahren und empfinden: ich vergeſſe dich am wenigſten, wenn ich dich am meiſten zu vergeſſen ſcheine; und am Ende — wenn wir Rech- nung mit einander halten, wirſt du finden — daß manche kalte Beobachtung dir uͤbrig bleibt, die ich dir allenfalls mit Waͤrme vorgetragen — denn wirklich, bruͤderlicher Leſer, die Forderung waͤ- re doch unbillig — „Sey warm und ſprich kalt“ — unbillig die Forderung. „Jch bin kalt, ſey „du's auch.“ — Ein Goldſtuͤck, das in meiner Hand warm worden iſt, und in der deinigen kalt wird — bleibt immer daſſelbe Goldſtuͤck, und ich ſehe nicht, mit welchem Recht du's ihm vorwer- fen koͤnnteſt — „Warum biſt du waͤrmer in ſeiner, als in meiner Hand“ — Alſo ſind wir nun ein fuͤr allemal hieruͤber einverſtanden. Jch ſchreibe, wie ich denk' und empfinde, und du lieſeſts, wie du's leſen kannſt. — Und nun auf unſern Raphaeliſchen Kopf zuruͤck! Es iſt kein Erhabener uͤber die Sphaͤre der Menſchheit; aber es iſt eine uͤberaus edle, freye, maͤnnliche große Seele, voll Geſundheit und Ruhe: durch keine verſengende oder erſchlappende Leidenſchaft entſtellt; voll Leben ohne Ueppigkeit; voll Klugheit, ohne flammende Einbildungskraft, vielleicht nicht Allmacht des Genies; — aber weit erhaben uͤber alle Dummheit und Niedertraͤch- tigkeit — Schon die Wendung iſt keiner ſtuͤpiden oder kriechenden Seele natuͤrlicher Weiſe moͤglich. Keiner Falſchheit faͤhig, — verachtet dieß edle Geſicht jede Verfuͤhrung zur Ungerechtigkeit. Es koͤnnte allenfalls ein Joſeph ſeyn, der ohne Grimmaſſe affectirter oder in der Schule gelernter Froͤmmigkeit mehr daͤcht' als ſpraͤche: „Wie ſollt ich ein ſolch Uebel thun, und wider Gott ſuͤndi- „gen?“ Solch einen Ernſt ohne alle Verzerrung, ſolch eine offne Entſchloſſenheit gegen das La- ſter; ſolch eine Kraft ohne Steifigkeit; ſolch eine Feſtigkeit mit dieſer Schlankheit; — ſolch eine Freyheit mit dieſer Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt; ſolch eine unbewoͤlkte Stirn; ſolch eine Einfachheit des Characters — O Gott! wie wuͤnſch ich mir dieſe umſonſt! — Umſonſt? Ja, ich ſoll mir vielleicht dieſe nicht wuͤnſchen! — Soll nicht wuͤnſchen, ein anderer zu werden, als ich bin; — nur das zu werden, was ich werden kann! Jch will keine andere Augen, als ich habe; keine andre Stirn; keinen andern Mund — Nur dieſe Stirn, dieſe Augen und dieſen Mund durch die Weisheit und die Tugend, deren ich in dieſen Gliedern faͤhig bin, ſo zu formen, ſo zu veredeln ſuchen, daß Gottes Ebenbild in mir nicht verkennt werde. Achtzehnte Phyſ. Fragm. I. Verſuch. R

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/181>, abgerufen am 13.05.2024.