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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 13. Zugabe. Von der Harmonie
sichter Umriß -- (den Zustand der Leidenschaft oder Gemüthsbewegung abstrahirt --) wie
ist er auch noch im gröbsten Nachriß -- edel! wie einfach! wie ununterbrochen! wie sanft ab-
weichend! wie ohne Catarrakte! wie ohne starke Falten, und dennoch nicht von fader leerer
Fläche! Wie viele Größe liegt z. E. bloß in der Stirn des Heilandes! Jn der Nase -- zu
viel Menschlichkeit, die ich aber nicht auf Raphaels, sondern der Copisten Rechnung setzen
will. Daß dieß Gesicht im Ganzen so schön, so schön besonders auch durch Bart und Haare,
worinn Raphael so ein großer Meister, so ein trefflicher Zeichner, so ein tiefsehender Phy-
siognomist war, daß dieß Gesichte, sag ich, bey aller dieser unläugbaren Schönheit, im Gan-
zen dennoch zu alt scheine, ist nicht zu läugnen, und scheint der allgemeine Fehler aller Ra-
phaelischen Christusköpfe zu seyn. -- Die Umrisse aller übrigen Figuren, Gestalten, Gebärd
und Miene abgerechnet, haben so viel Edles, moralisch und physisch Gesundes, Offnes, Freyes,
von Arglist und Schlauigkeit Reines, daß sich jeder nicht ganz seelenloser Mensch von ganzem
Herzen Glück wünschen müßte, Mitglied einer solchen Gesellschaft zu seyn, oder derselben nur
beyzuwohnen. Man vergleiche diese mit einer von den Hogartschen oder Rembrandschen; wer
wird einen Augenblick anstehen, die Raphaelische vor diesen zu wählen? -- und -- man ver-
gesse dabey nicht die Mannichfaltigkeit dieser Umrisse, auch wenn man sie sich alle in demselben
Zustande der Ruhe gedächte, zu bemerken! Es ist in allen Kraft und Einfalt -- und welche
Mienen der Aufmerksamkeit, voll Zweifel und Glauben, voll Furcht und Hoffnung! voll
Neugier und Ehrfurcht! Schrecken und Andacht! -- und das alles so still, so geräuschlos, so
in Eins zusammenfließend! Auch in dieser schlechten Copey -- wie redend ist Thomas Miene!
wie schamvoll, ehrfurchtsvoll, staunend -- -- und nun zuletzt noch ein Wort von der Stellung!
wie expressif ist diese bey jedem -- wie einfältig -- und wie verschieden! wie edel steht Christus!
wie ist Bewegung und Ruhe allenthalben so glücklich vereinigt! wie ist nirgends akademische
Steifigkeit! wie durchaus Freyheit, und Freyheit voll Bedeutung! -- Alle die schon be-
merkte Gemüthszustände -- wie richtig und bestimmt sind sie wiederum auch bloß in der
Stellung ausgedrückt! --

Obgleich nun, aller dieser unläugbaren Trefflichkeiten ungeachtet, diese herrliche Scene,
die schönste vermuthlich, die jemals auf unserm Erdball vorgefallen seyn mag, nicht in allen vier

ange-

IX. Fragment. 13. Zugabe. Von der Harmonie
ſichter Umriß — (den Zuſtand der Leidenſchaft oder Gemuͤthsbewegung abſtrahirt —) wie
iſt er auch noch im groͤbſten Nachriß — edel! wie einfach! wie ununterbrochen! wie ſanft ab-
weichend! wie ohne Catarrakte! wie ohne ſtarke Falten, und dennoch nicht von fader leerer
Flaͤche! Wie viele Groͤße liegt z. E. bloß in der Stirn des Heilandes! Jn der Naſe — zu
viel Menſchlichkeit, die ich aber nicht auf Raphaels, ſondern der Copiſten Rechnung ſetzen
will. Daß dieß Geſicht im Ganzen ſo ſchoͤn, ſo ſchoͤn beſonders auch durch Bart und Haare,
worinn Raphael ſo ein großer Meiſter, ſo ein trefflicher Zeichner, ſo ein tiefſehender Phy-
ſiognomiſt war, daß dieß Geſichte, ſag ich, bey aller dieſer unlaͤugbaren Schoͤnheit, im Gan-
zen dennoch zu alt ſcheine, iſt nicht zu laͤugnen, und ſcheint der allgemeine Fehler aller Ra-
phaeliſchen Chriſtuskoͤpfe zu ſeyn. — Die Umriſſe aller uͤbrigen Figuren, Geſtalten, Gebaͤrd
und Miene abgerechnet, haben ſo viel Edles, moraliſch und phyſiſch Geſundes, Offnes, Freyes,
von Argliſt und Schlauigkeit Reines, daß ſich jeder nicht ganz ſeelenloſer Menſch von ganzem
Herzen Gluͤck wuͤnſchen muͤßte, Mitglied einer ſolchen Geſellſchaft zu ſeyn, oder derſelben nur
beyzuwohnen. Man vergleiche dieſe mit einer von den Hogartſchen oder Rembrandſchen; wer
wird einen Augenblick anſtehen, die Raphaeliſche vor dieſen zu waͤhlen? — und — man ver-
geſſe dabey nicht die Mannichfaltigkeit dieſer Umriſſe, auch wenn man ſie ſich alle in demſelben
Zuſtande der Ruhe gedaͤchte, zu bemerken! Es iſt in allen Kraft und Einfalt — und welche
Mienen der Aufmerkſamkeit, voll Zweifel und Glauben, voll Furcht und Hoffnung! voll
Neugier und Ehrfurcht! Schrecken und Andacht! — und das alles ſo ſtill, ſo geraͤuſchlos, ſo
in Eins zuſammenfließend! Auch in dieſer ſchlechten Copey — wie redend iſt Thomas Miene!
wie ſchamvoll, ehrfurchtsvoll, ſtaunend — — und nun zuletzt noch ein Wort von der Stellung!
wie expreſſif iſt dieſe bey jedem — wie einfaͤltig — und wie verſchieden! wie edel ſteht Chriſtus!
wie iſt Bewegung und Ruhe allenthalben ſo gluͤcklich vereinigt! wie iſt nirgends akademiſche
Steifigkeit! wie durchaus Freyheit, und Freyheit voll Bedeutung! — Alle die ſchon be-
merkte Gemuͤthszuſtaͤnde — wie richtig und beſtimmt ſind ſie wiederum auch bloß in der
Stellung ausgedruͤckt! —

Obgleich nun, aller dieſer unlaͤugbaren Trefflichkeiten ungeachtet, dieſe herrliche Scene,
die ſchoͤnſte vermuthlich, die jemals auf unſerm Erdball vorgefallen ſeyn mag, nicht in allen vier

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[116/0168] IX. Fragment. 13. Zugabe. Von der Harmonie ſichter Umriß — (den Zuſtand der Leidenſchaft oder Gemuͤthsbewegung abſtrahirt —) wie iſt er auch noch im groͤbſten Nachriß — edel! wie einfach! wie ununterbrochen! wie ſanft ab- weichend! wie ohne Catarrakte! wie ohne ſtarke Falten, und dennoch nicht von fader leerer Flaͤche! Wie viele Groͤße liegt z. E. bloß in der Stirn des Heilandes! Jn der Naſe — zu viel Menſchlichkeit, die ich aber nicht auf Raphaels, ſondern der Copiſten Rechnung ſetzen will. Daß dieß Geſicht im Ganzen ſo ſchoͤn, ſo ſchoͤn beſonders auch durch Bart und Haare, worinn Raphael ſo ein großer Meiſter, ſo ein trefflicher Zeichner, ſo ein tiefſehender Phy- ſiognomiſt war, daß dieß Geſichte, ſag ich, bey aller dieſer unlaͤugbaren Schoͤnheit, im Gan- zen dennoch zu alt ſcheine, iſt nicht zu laͤugnen, und ſcheint der allgemeine Fehler aller Ra- phaeliſchen Chriſtuskoͤpfe zu ſeyn. — Die Umriſſe aller uͤbrigen Figuren, Geſtalten, Gebaͤrd und Miene abgerechnet, haben ſo viel Edles, moraliſch und phyſiſch Geſundes, Offnes, Freyes, von Argliſt und Schlauigkeit Reines, daß ſich jeder nicht ganz ſeelenloſer Menſch von ganzem Herzen Gluͤck wuͤnſchen muͤßte, Mitglied einer ſolchen Geſellſchaft zu ſeyn, oder derſelben nur beyzuwohnen. Man vergleiche dieſe mit einer von den Hogartſchen oder Rembrandſchen; wer wird einen Augenblick anſtehen, die Raphaeliſche vor dieſen zu waͤhlen? — und — man ver- geſſe dabey nicht die Mannichfaltigkeit dieſer Umriſſe, auch wenn man ſie ſich alle in demſelben Zuſtande der Ruhe gedaͤchte, zu bemerken! Es iſt in allen Kraft und Einfalt — und welche Mienen der Aufmerkſamkeit, voll Zweifel und Glauben, voll Furcht und Hoffnung! voll Neugier und Ehrfurcht! Schrecken und Andacht! — und das alles ſo ſtill, ſo geraͤuſchlos, ſo in Eins zuſammenfließend! Auch in dieſer ſchlechten Copey — wie redend iſt Thomas Miene! wie ſchamvoll, ehrfurchtsvoll, ſtaunend — — und nun zuletzt noch ein Wort von der Stellung! wie expreſſif iſt dieſe bey jedem — wie einfaͤltig — und wie verſchieden! wie edel ſteht Chriſtus! wie iſt Bewegung und Ruhe allenthalben ſo gluͤcklich vereinigt! wie iſt nirgends akademiſche Steifigkeit! wie durchaus Freyheit, und Freyheit voll Bedeutung! — Alle die ſchon be- merkte Gemuͤthszuſtaͤnde — wie richtig und beſtimmt ſind ſie wiederum auch bloß in der Stellung ausgedruͤckt! — Obgleich nun, aller dieſer unlaͤugbaren Trefflichkeiten ungeachtet, dieſe herrliche Scene, die ſchoͤnſte vermuthlich, die jemals auf unſerm Erdball vorgefallen ſeyn mag, nicht in allen vier ange-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/168>, abgerufen am 13.05.2024.