Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
der moralischen und körperlichen Schönheit.


Man bemerke vor allen Dingen überhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unähnlichkeit
dieser auf so verschiedene Art verruchten Gesichter!

Der Mann, der den Heiland vorführt, ist mehr roher, wilder, abgehärteter Soldat; ein
Mann, der gewohnt ist, mit steinerner Unempfindlichkeit einen Menschen, er sey schuldig, oder
unschuldig, auf den Tod geißeln zu sehen -- Er ist blos Soldat -- blos rohe, grausam, und
dabey sehr leichtsinnig.

Wie ganz anders niederträchtig und verächtlich ist das höchststehende Pharisäer-Gesicht
am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbarische, planlose Grausamkeit!
Aber Fülle des Neides! aber die allerweichlichste und niederträchtigste Bosheit, voll gleichsam
herabtriefender Ueppigkeit! Gefühllos durch langsitzendes Verprassen des fetten Wittwen- und
Waysenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der spottendsten Verachtung! Hier
keine hohe sich fühlende, herabgebietende Stärke! Drohung zwar! wehmüthige, klägliche, hell-
heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann -- aber in-
wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres tönendes Faß! -- Stimme, der man ge-
horcht, weil man alles von ihrer niederträchtigen Seele zu befürchten hat. Aber nicht Stim-
me, der man glaubt! -- Nicht Philo, der ruft:

"Wir sind Besiegte! Wir schweigen!
"Aber davon kann Philo nicht schweigen, ihr Jsraeliten!
"Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht schon hingeneigt schwindelt,
"Euer Verderben zu wählen! Jch rede mit Angst, doch red ich!

Nicht Kajaphas:

-- -- "Der sich anfeurt, zu wähnen, die Gottheit
"Decke getünchte Gräber nicht auf! Doch nannte sein Herz ihn
"Heuchler! Es fühlt' es und stand mit unverrathendem Auge
"Vor der Versammlung, von Grimm, von übermannender Wuth voll."*)

So spricht das Gesicht nicht. Es ist das Gesicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's
so einen Kerl aufgebracht, wie eine Wespe tief gereizt haben muß, wenn die Machtstimme der

geraden
*) Messias IV. Gesang.
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.


Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit
dieſer auf ſo verſchiedene Art verruchten Geſichter!

Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein
Mann, der gewohnt iſt, mit ſteinerner Unempfindlichkeit einen Menſchen, er ſey ſchuldig, oder
unſchuldig, auf den Tod geißeln zu ſehen — Er iſt blos Soldat — blos rohe, grauſam, und
dabey ſehr leichtſinnig.

Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht
am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbariſche, planloſe Grauſamkeit!
Aber Fuͤlle des Neides! aber die allerweichlichſte und niedertraͤchtigſte Bosheit, voll gleichſam
herabtriefender Ueppigkeit! Gefuͤhllos durch langſitzendes Verpraſſen des fetten Wittwen- und
Wayſenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der ſpottendſten Verachtung! Hier
keine hohe ſich fuͤhlende, herabgebietende Staͤrke! Drohung zwar! wehmuͤthige, klaͤgliche, hell-
heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann — aber in-
wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres toͤnendes Faß! — Stimme, der man ge-
horcht, weil man alles von ihrer niedertraͤchtigen Seele zu befuͤrchten hat. Aber nicht Stim-
me, der man glaubt! — Nicht Philo, der ruft:

„Wir ſind Beſiegte! Wir ſchweigen!
„Aber davon kann Philo nicht ſchweigen, ihr Jſraeliten!
„Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht ſchon hingeneigt ſchwindelt,
„Euer Verderben zu waͤhlen! Jch rede mit Angſt, doch red ich!

Nicht Kajaphas:

— — „Der ſich anfeurt, zu waͤhnen, die Gottheit
„Decke getuͤnchte Graͤber nicht auf! Doch nannte ſein Herz ihn
„Heuchler! Es fuͤhlt' es und ſtand mit unverrathendem Auge
„Vor der Verſammlung, von Grimm, von uͤbermannender Wuth voll.“*)

So ſpricht das Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's
ſo einen Kerl aufgebracht, wie eine Weſpe tief gereizt haben muß, wenn die Machtſtimme der

geraden
*) Meſſias IV. Geſang.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0121" n="87"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">der morali&#x017F;chen und ko&#x0364;rperlichen Scho&#x0364;nheit.</hi> </hi> </fw><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p>Man bemerke vor allen Dingen u&#x0364;berhaupt auffallende Aehnlichkeit und Una&#x0364;hnlichkeit<lb/>
die&#x017F;er auf &#x017F;o ver&#x017F;chiedene Art verruchten Ge&#x017F;ichter!</p><lb/>
            <p>Der Mann, der den Heiland vorfu&#x0364;hrt, i&#x017F;t mehr roher, wilder, abgeha&#x0364;rteter Soldat; ein<lb/>
Mann, der gewohnt i&#x017F;t, mit &#x017F;teinerner Unempfindlichkeit einen Men&#x017F;chen, er &#x017F;ey &#x017F;chuldig, oder<lb/>
un&#x017F;chuldig, auf den Tod geißeln zu &#x017F;ehen &#x2014; Er i&#x017F;t blos Soldat &#x2014; blos rohe, grau&#x017F;am, und<lb/>
dabey &#x017F;ehr leicht&#x017F;innig.</p><lb/>
            <p>Wie ganz anders niedertra&#x0364;chtig und vera&#x0364;chtlich i&#x017F;t das ho&#x0364;ch&#x017F;t&#x017F;tehende Phari&#x017F;a&#x0364;er-Ge&#x017F;icht<lb/>
am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbari&#x017F;che, planlo&#x017F;e Grau&#x017F;amkeit!<lb/>
Aber Fu&#x0364;lle des Neides! aber die allerweichlich&#x017F;te und niedertra&#x0364;chtig&#x017F;te Bosheit, voll gleich&#x017F;am<lb/>
herabtriefender Ueppigkeit! Gefu&#x0364;hllos durch lang&#x017F;itzendes Verpra&#x017F;&#x017F;en des fetten Wittwen- und<lb/>
Way&#x017F;enraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der &#x017F;pottend&#x017F;ten Verachtung! Hier<lb/>
keine hohe &#x017F;ich fu&#x0364;hlende, herabgebietende Sta&#x0364;rke! Drohung zwar! wehmu&#x0364;thige, kla&#x0364;gliche, hell-<lb/>
heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann &#x2014; aber in-<lb/>
wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres to&#x0364;nendes Faß! &#x2014; Stimme, der man ge-<lb/>
horcht, weil man alles von ihrer niedertra&#x0364;chtigen Seele zu befu&#x0364;rchten hat. Aber nicht Stim-<lb/>
me, der man glaubt! &#x2014; Nicht Philo, der ruft:</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>&#x201E;Wir &#x017F;ind Be&#x017F;iegte! Wir &#x017F;chweigen!</l><lb/>
              <l>&#x201E;Aber davon kann Philo nicht &#x017F;chweigen, ihr J&#x017F;raeliten!</l><lb/>
              <l>&#x201E;Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht &#x017F;chon hingeneigt &#x017F;chwindelt,</l><lb/>
              <l>&#x201E;Euer Verderben zu wa&#x0364;hlen! Jch rede mit Ang&#x017F;t, doch red ich!</l>
            </lg><lb/>
            <p>Nicht Kajaphas:</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>&#x2014; &#x2014; &#x201E;Der &#x017F;ich anfeurt, zu wa&#x0364;hnen, die Gottheit</l><lb/>
              <l>&#x201E;Decke getu&#x0364;nchte Gra&#x0364;ber nicht auf! Doch nannte &#x017F;ein Herz ihn</l><lb/>
              <l>&#x201E;Heuchler! Es fu&#x0364;hlt' es und &#x017F;tand mit unverrathendem Auge</l><lb/>
              <l>&#x201E;Vor der Ver&#x017F;ammlung, von Grimm, von u&#x0364;bermannender Wuth voll.&#x201C;<note place="foot" n="*)">Me&#x017F;&#x017F;ias <hi rendition="#aq">IV.</hi> Ge&#x017F;ang.</note></l>
            </lg><lb/>
            <p>So &#x017F;pricht <hi rendition="#fr">das</hi> Ge&#x017F;icht nicht. Es i&#x017F;t das Ge&#x017F;icht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's<lb/>
&#x017F;o einen Kerl aufgebracht, wie eine We&#x017F;pe tief gereizt haben muß, wenn die Macht&#x017F;timme der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">geraden</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0121] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit dieſer auf ſo verſchiedene Art verruchten Geſichter! Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein Mann, der gewohnt iſt, mit ſteinerner Unempfindlichkeit einen Menſchen, er ſey ſchuldig, oder unſchuldig, auf den Tod geißeln zu ſehen — Er iſt blos Soldat — blos rohe, grauſam, und dabey ſehr leichtſinnig. Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbariſche, planloſe Grauſamkeit! Aber Fuͤlle des Neides! aber die allerweichlichſte und niedertraͤchtigſte Bosheit, voll gleichſam herabtriefender Ueppigkeit! Gefuͤhllos durch langſitzendes Verpraſſen des fetten Wittwen- und Wayſenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der ſpottendſten Verachtung! Hier keine hohe ſich fuͤhlende, herabgebietende Staͤrke! Drohung zwar! wehmuͤthige, klaͤgliche, hell- heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann — aber in- wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres toͤnendes Faß! — Stimme, der man ge- horcht, weil man alles von ihrer niedertraͤchtigen Seele zu befuͤrchten hat. Aber nicht Stim- me, der man glaubt! — Nicht Philo, der ruft: „Wir ſind Beſiegte! Wir ſchweigen! „Aber davon kann Philo nicht ſchweigen, ihr Jſraeliten! „Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht ſchon hingeneigt ſchwindelt, „Euer Verderben zu waͤhlen! Jch rede mit Angſt, doch red ich! Nicht Kajaphas: — — „Der ſich anfeurt, zu waͤhnen, die Gottheit „Decke getuͤnchte Graͤber nicht auf! Doch nannte ſein Herz ihn „Heuchler! Es fuͤhlt' es und ſtand mit unverrathendem Auge „Vor der Verſammlung, von Grimm, von uͤbermannender Wuth voll.“ *) So ſpricht das Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's ſo einen Kerl aufgebracht, wie eine Weſpe tief gereizt haben muß, wenn die Machtſtimme der geraden *) Meſſias IV. Geſang.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/121
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/121>, abgerufen am 21.11.2024.