Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.der moralischen und körperlichen Schönheit. Man bemerke vor allen Dingen überhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unähnlichkeit Der Mann, der den Heiland vorführt, ist mehr roher, wilder, abgehärteter Soldat; ein Wie ganz anders niederträchtig und verächtlich ist das höchststehende Pharisäer-Gesicht "Wir sind Besiegte! Wir schweigen! "Aber davon kann Philo nicht schweigen, ihr Jsraeliten! "Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht schon hingeneigt schwindelt, "Euer Verderben zu wählen! Jch rede mit Angst, doch red ich! Nicht Kajaphas: -- -- "Der sich anfeurt, zu wähnen, die Gottheit "Decke getünchte Gräber nicht auf! Doch nannte sein Herz ihn "Heuchler! Es fühlt' es und stand mit unverrathendem Auge "Vor der Versammlung, von Grimm, von übermannender Wuth voll."*) So spricht das Gesicht nicht. Es ist das Gesicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's geraden *) Messias IV. Gesang.
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht „Wir ſind Beſiegte! Wir ſchweigen! „Aber davon kann Philo nicht ſchweigen, ihr Jſraeliten! „Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht ſchon hingeneigt ſchwindelt, „Euer Verderben zu waͤhlen! Jch rede mit Angſt, doch red ich! Nicht Kajaphas: — — „Der ſich anfeurt, zu waͤhnen, die Gottheit „Decke getuͤnchte Graͤber nicht auf! Doch nannte ſein Herz ihn „Heuchler! Es fuͤhlt' es und ſtand mit unverrathendem Auge „Vor der Verſammlung, von Grimm, von uͤbermannender Wuth voll.“*) So ſpricht das Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's geraden *) Meſſias IV. Geſang.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0121" n="87"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.</hi> </hi> </fw><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit<lb/> dieſer auf ſo verſchiedene Art verruchten Geſichter!</p><lb/> <p>Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein<lb/> Mann, der gewohnt iſt, mit ſteinerner Unempfindlichkeit einen Menſchen, er ſey ſchuldig, oder<lb/> unſchuldig, auf den Tod geißeln zu ſehen — Er iſt blos Soldat — blos rohe, grauſam, und<lb/> dabey ſehr leichtſinnig.</p><lb/> <p>Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht<lb/> am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbariſche, planloſe Grauſamkeit!<lb/> Aber Fuͤlle des Neides! aber die allerweichlichſte und niedertraͤchtigſte Bosheit, voll gleichſam<lb/> herabtriefender Ueppigkeit! Gefuͤhllos durch langſitzendes Verpraſſen des fetten Wittwen- und<lb/> Wayſenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der ſpottendſten Verachtung! Hier<lb/> keine hohe ſich fuͤhlende, herabgebietende Staͤrke! Drohung zwar! wehmuͤthige, klaͤgliche, hell-<lb/> heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann — aber in-<lb/> wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres toͤnendes Faß! — Stimme, der man ge-<lb/> horcht, weil man alles von ihrer niedertraͤchtigen Seele zu befuͤrchten hat. Aber nicht Stim-<lb/> me, der man glaubt! — Nicht Philo, der ruft:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Wir ſind Beſiegte! Wir ſchweigen!</l><lb/> <l>„Aber davon kann Philo nicht ſchweigen, ihr Jſraeliten!</l><lb/> <l>„Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht ſchon hingeneigt ſchwindelt,</l><lb/> <l>„Euer Verderben zu waͤhlen! Jch rede mit Angſt, doch red ich!</l> </lg><lb/> <p>Nicht Kajaphas:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>— — „Der ſich anfeurt, zu waͤhnen, die Gottheit</l><lb/> <l>„Decke getuͤnchte Graͤber nicht auf! Doch nannte ſein Herz ihn</l><lb/> <l>„Heuchler! Es fuͤhlt' es und ſtand mit unverrathendem Auge</l><lb/> <l>„Vor der Verſammlung, von Grimm, von uͤbermannender Wuth voll.“<note place="foot" n="*)">Meſſias <hi rendition="#aq">IV.</hi> Geſang.</note></l> </lg><lb/> <p>So ſpricht <hi rendition="#fr">das</hi> Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's<lb/> ſo einen Kerl aufgebracht, wie eine Weſpe tief gereizt haben muß, wenn die Machtſtimme der<lb/> <fw place="bottom" type="catch">geraden</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0121]
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit
dieſer auf ſo verſchiedene Art verruchten Geſichter!
Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein
Mann, der gewohnt iſt, mit ſteinerner Unempfindlichkeit einen Menſchen, er ſey ſchuldig, oder
unſchuldig, auf den Tod geißeln zu ſehen — Er iſt blos Soldat — blos rohe, grauſam, und
dabey ſehr leichtſinnig.
Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht
am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbariſche, planloſe Grauſamkeit!
Aber Fuͤlle des Neides! aber die allerweichlichſte und niedertraͤchtigſte Bosheit, voll gleichſam
herabtriefender Ueppigkeit! Gefuͤhllos durch langſitzendes Verpraſſen des fetten Wittwen- und
Wayſenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der ſpottendſten Verachtung! Hier
keine hohe ſich fuͤhlende, herabgebietende Staͤrke! Drohung zwar! wehmuͤthige, klaͤgliche, hell-
heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann — aber in-
wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres toͤnendes Faß! — Stimme, der man ge-
horcht, weil man alles von ihrer niedertraͤchtigen Seele zu befuͤrchten hat. Aber nicht Stim-
me, der man glaubt! — Nicht Philo, der ruft:
„Wir ſind Beſiegte! Wir ſchweigen!
„Aber davon kann Philo nicht ſchweigen, ihr Jſraeliten!
„Daß ihr am Hange des Abgrunds vielleicht ſchon hingeneigt ſchwindelt,
„Euer Verderben zu waͤhlen! Jch rede mit Angſt, doch red ich!
Nicht Kajaphas:
— — „Der ſich anfeurt, zu waͤhnen, die Gottheit
„Decke getuͤnchte Graͤber nicht auf! Doch nannte ſein Herz ihn
„Heuchler! Es fuͤhlt' es und ſtand mit unverrathendem Auge
„Vor der Verſammlung, von Grimm, von uͤbermannender Wuth voll.“ *)
So ſpricht das Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's
ſo einen Kerl aufgebracht, wie eine Weſpe tief gereizt haben muß, wenn die Machtſtimme der
geraden
*) Meſſias IV. Geſang.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |