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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
nahe zirkelbogigt ist -- So weit meine Erfahrungen reichen, ein sicheres Zeichen von heiterem
festem Verstande und Standhaftigkeit, ohne kleingeistigen Eigensinn! --

Sein Auge ist offen! hell! stark gewölbt, kurzsichtig und steht im Urbild tiefer unter
der Stirne, als in der Copey! --

Sein Blick ist scharf, nicht anziehend, nicht zurückstoßend; aber treuherzig und er-
heiternd.

Seine Nase ist mehr des Redlichen, als des Klugen; sein Mund, unzufrieden mit dem
Zeichner, der ihn zu lang aufhielt, (denn seine Augenblicke sind abgemessen, und mehr aus
Freude als Pflicht versäumt er nichts befohlenes und unbefohlenes Gutes) zeugt dennoch auch
in diesem unvollkommenen Nachrisse von Güte, und leidenschaftloser Ruhe, um die ich ihn be-
neiden möchte, wenn's was nützte, und wenn's nicht anbetenswürdige Gottesweisheit wäre,
dem einen zur Entwicklung seiner Selbst Leidenschaft, dem andern triebsame sanfte Thätigkeit zu
geben; -- wenn's nicht Schönheit wäre, daß hier ein sanftrieselnder Bach, dort ein fortreis-
sender Strom sey. --

Eigentliche Zärtlichkeit, zitterndes Gefühl, schmachtende Sympathie -- ist nicht in
seinem Gesichte, und seinem Character; aber dafür ist er auch ein Klostermann; aber eine treuere
Bruderseele findest du nicht.

Auch bildet und reiniget sich sein Geist und sein Geschmack noch mit jedem Tage, und
unerträglicher mit jedem Tage wird ihm alles leere seelenlose Gewäsche, alle Sophistereyen, die
mehr Zank, als Erbauung stiften.

Jch glaube, daß er an der Seite eines kritischen Freundes ein großer Liederdichter ge-
worden wäre, deutlicher, als Klopstock, und wärmer, als Gellert. Bekannt mit alter und
neuer Literatur, ohn' aus der Gelehrsamkeit Hauptsache zu machen, kann er noch ein gemein-
nütziger Schriftsteller, besonders für sein Gotteshaus werden. Er schreibt einen natürlich unge-
künstelt treuherzigen Brief, mit so viel Salz, Laune und Kraft, wie man's von wenigen so welt-
losen Mönchen erwarten darf. -- Ein Trostbrief von ihm an meine Frau, da ihm einmal ein Ge-
rüchte sagte, daß ich gestorben wäre, wird mir ein bleibendes Denkmal seiner treuen, frommen
und liebenswürdigen Seele seyn.

Wär ich noch so glücklich, ein Bild seines fürstlichen Abtes, publicieren zu dürfen, so hätt'
ich Gelegenheit noch mehr zu sagen; wie glücklich ein Kloster ist, das so treffliche Männer vereinigt.

Hier ist noch das Schattenbild des lieben planlosen Mannes, das sein Porträt berichtigen
und zeigen kann, daß die geringste üble Laune das menschenfreundlichste Gesicht so rauh machen

kann,
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zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
nahe zirkelbogigt iſt — So weit meine Erfahrungen reichen, ein ſicheres Zeichen von heiterem
feſtem Verſtande und Standhaftigkeit, ohne kleingeiſtigen Eigenſinn! —

Sein Auge iſt offen! hell! ſtark gewoͤlbt, kurzſichtig und ſteht im Urbild tiefer unter
der Stirne, als in der Copey! —

Sein Blick iſt ſcharf, nicht anziehend, nicht zuruͤckſtoßend; aber treuherzig und er-
heiternd.

Seine Naſe iſt mehr des Redlichen, als des Klugen; ſein Mund, unzufrieden mit dem
Zeichner, der ihn zu lang aufhielt, (denn ſeine Augenblicke ſind abgemeſſen, und mehr aus
Freude als Pflicht verſaͤumt er nichts befohlenes und unbefohlenes Gutes) zeugt dennoch auch
in dieſem unvollkommenen Nachriſſe von Guͤte, und leidenſchaftloſer Ruhe, um die ich ihn be-
neiden moͤchte, wenn's was nuͤtzte, und wenn's nicht anbetenswuͤrdige Gottesweisheit waͤre,
dem einen zur Entwicklung ſeiner Selbſt Leidenſchaft, dem andern triebſame ſanfte Thaͤtigkeit zu
geben; — wenn's nicht Schoͤnheit waͤre, daß hier ein ſanftrieſelnder Bach, dort ein fortreiſ-
ſender Strom ſey. —

Eigentliche Zaͤrtlichkeit, zitterndes Gefuͤhl, ſchmachtende Sympathie — iſt nicht in
ſeinem Geſichte, und ſeinem Character; aber dafuͤr iſt er auch ein Kloſtermann; aber eine treuere
Bruderſeele findeſt du nicht.

Auch bildet und reiniget ſich ſein Geiſt und ſein Geſchmack noch mit jedem Tage, und
unertraͤglicher mit jedem Tage wird ihm alles leere ſeelenloſe Gewaͤſche, alle Sophiſtereyen, die
mehr Zank, als Erbauung ſtiften.

Jch glaube, daß er an der Seite eines kritiſchen Freundes ein großer Liederdichter ge-
worden waͤre, deutlicher, als Klopſtock, und waͤrmer, als Gellert. Bekannt mit alter und
neuer Literatur, ohn' aus der Gelehrſamkeit Hauptſache zu machen, kann er noch ein gemein-
nuͤtziger Schriftſteller, beſonders fuͤr ſein Gotteshaus werden. Er ſchreibt einen natuͤrlich unge-
kuͤnſtelt treuherzigen Brief, mit ſo viel Salz, Laune und Kraft, wie man's von wenigen ſo welt-
loſen Moͤnchen erwarten darf. — Ein Troſtbrief von ihm an meine Frau, da ihm einmal ein Ge-
ruͤchte ſagte, daß ich geſtorben waͤre, wird mir ein bleibendes Denkmal ſeiner treuen, frommen
und liebenswuͤrdigen Seele ſeyn.

Waͤr ich noch ſo gluͤcklich, ein Bild ſeines fuͤrſtlichen Abtes, publicieren zu duͤrfen, ſo haͤtt'
ich Gelegenheit noch mehr zu ſagen; wie gluͤcklich ein Kloſter iſt, das ſo treffliche Maͤnner vereinigt.

Hier iſt noch das Schattenbild des lieben planloſen Mannes, das ſein Portraͤt berichtigen
und zeigen kann, daß die geringſte uͤble Laune das menſchenfreundlichſte Geſicht ſo rauh machen

kann,
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[261/0417] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. nahe zirkelbogigt iſt — So weit meine Erfahrungen reichen, ein ſicheres Zeichen von heiterem feſtem Verſtande und Standhaftigkeit, ohne kleingeiſtigen Eigenſinn! — Sein Auge iſt offen! hell! ſtark gewoͤlbt, kurzſichtig und ſteht im Urbild tiefer unter der Stirne, als in der Copey! — Sein Blick iſt ſcharf, nicht anziehend, nicht zuruͤckſtoßend; aber treuherzig und er- heiternd. Seine Naſe iſt mehr des Redlichen, als des Klugen; ſein Mund, unzufrieden mit dem Zeichner, der ihn zu lang aufhielt, (denn ſeine Augenblicke ſind abgemeſſen, und mehr aus Freude als Pflicht verſaͤumt er nichts befohlenes und unbefohlenes Gutes) zeugt dennoch auch in dieſem unvollkommenen Nachriſſe von Guͤte, und leidenſchaftloſer Ruhe, um die ich ihn be- neiden moͤchte, wenn's was nuͤtzte, und wenn's nicht anbetenswuͤrdige Gottesweisheit waͤre, dem einen zur Entwicklung ſeiner Selbſt Leidenſchaft, dem andern triebſame ſanfte Thaͤtigkeit zu geben; — wenn's nicht Schoͤnheit waͤre, daß hier ein ſanftrieſelnder Bach, dort ein fortreiſ- ſender Strom ſey. — Eigentliche Zaͤrtlichkeit, zitterndes Gefuͤhl, ſchmachtende Sympathie — iſt nicht in ſeinem Geſichte, und ſeinem Character; aber dafuͤr iſt er auch ein Kloſtermann; aber eine treuere Bruderſeele findeſt du nicht. Auch bildet und reiniget ſich ſein Geiſt und ſein Geſchmack noch mit jedem Tage, und unertraͤglicher mit jedem Tage wird ihm alles leere ſeelenloſe Gewaͤſche, alle Sophiſtereyen, die mehr Zank, als Erbauung ſtiften. Jch glaube, daß er an der Seite eines kritiſchen Freundes ein großer Liederdichter ge- worden waͤre, deutlicher, als Klopſtock, und waͤrmer, als Gellert. Bekannt mit alter und neuer Literatur, ohn' aus der Gelehrſamkeit Hauptſache zu machen, kann er noch ein gemein- nuͤtziger Schriftſteller, beſonders fuͤr ſein Gotteshaus werden. Er ſchreibt einen natuͤrlich unge- kuͤnſtelt treuherzigen Brief, mit ſo viel Salz, Laune und Kraft, wie man's von wenigen ſo welt- loſen Moͤnchen erwarten darf. — Ein Troſtbrief von ihm an meine Frau, da ihm einmal ein Ge- ruͤchte ſagte, daß ich geſtorben waͤre, wird mir ein bleibendes Denkmal ſeiner treuen, frommen und liebenswuͤrdigen Seele ſeyn. Waͤr ich noch ſo gluͤcklich, ein Bild ſeines fuͤrſtlichen Abtes, publicieren zu duͤrfen, ſo haͤtt' ich Gelegenheit noch mehr zu ſagen; wie gluͤcklich ein Kloſter iſt, das ſo treffliche Maͤnner vereinigt. Hier iſt noch das Schattenbild des lieben planloſen Mannes, das ſein Portraͤt berichtigen und zeigen kann, daß die geringſte uͤble Laune das menſchenfreundlichſte Geſicht ſo rauh machen kann, L l 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/417>, abgerufen am 27.11.2024.