wir uns von andern geniessen lassen, uns andern ab- sichtlich hingeben, desto mehr geniessen und besitzen wir uns selbst. Auch in diesem Sinn ist's wahr: Wer sein Leben verliert, der findet es. Wer ist mehr, lebt mehr, fühlt sein Leben kräftiger, süsser, inniger, als wer seiner selbst am meisten nnd seiner Nebenmen- schen am wenigsten vergißt! Hat nicht jeder, jeder für sich selber dann am meisten Achtung -- (und Ach- tung für sich selbst haben, ist warlich kein geringes Theil der würdigsten Menschen Seeligkeit --) Ist nicht jeder der Achtung anderer in dem Maße sicher, wie er uneigennützig, für sich selbst Absichtlos, für andere hingegeben, treuherzig wirksam ist? -- Man denke sich einen Menschen einen einzigen Tag dem Buchsta- sten und Geiste dieses Grundgesetzes Christi gemäß han- delnd -- wird man sich enthalten können, ihm nicht so fast mit Worten als mit allen Bewegungen und Em- pfindungen der Seele die tiefste Hochachtung und eine Bewunderung zu bezeugen, die der Anbethung, mögt' ich sagen, nahe kömmt -- -- -- Was ist Moral? Was ist Tugend? Was ist Ehrlichkeit und Liebe? -- Thun, was andere mit Billigkeit von uus verlangen, und keinem Hauch oder Sturme des eignen Willens nach- geben -- Mit Willenloser Einfalt sich immer an des an- dern Stelle denken; sich in des andern Empfindungen hinein setzen -- Sich selber über dem Leben für andere vergessen. -- Man nenne irgend etwas, dem man den Namen Tugend, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Groß- muth, schöne Handlung, Adel, Liebe, Geistes- stärke, Erhabenheit, Bewundernswürdigkeit --
geben
D 3
Alles, was ihr wollet ꝛc.
wir uns von andern genieſſen laſſen, uns andern ab- ſichtlich hingeben, deſto mehr genieſſen und beſitzen wir uns ſelbſt. Auch in dieſem Sinn iſt’s wahr: Wer ſein Leben verliert, der findet es. Wer iſt mehr, lebt mehr, fühlt ſein Leben kräftiger, ſüſſer, inniger, als wer ſeiner ſelbſt am meiſten nnd ſeiner Nebenmen- ſchen am wenigſten vergißt! Hat nicht jeder, jeder für ſich ſelber dann am meiſten Achtung — (und Ach- tung für ſich ſelbſt haben, iſt warlich kein geringes Theil der würdigſten Menſchen Seeligkeit —) Iſt nicht jeder der Achtung anderer in dem Maße ſicher, wie er uneigennützig, für ſich ſelbſt Abſichtlos, für andere hingegeben, treuherzig wirkſam iſt? — Man denke ſich einen Menſchen einen einzigen Tag dem Buchſta- ſten und Geiſte dieſes Grundgeſetzes Chriſti gemäß han- delnd — wird man ſich enthalten können, ihm nicht ſo faſt mit Worten als mit allen Bewegungen und Em- pfindungen der Seele die tiefſte Hochachtung und eine Bewunderung zu bezeugen, die der Anbethung, mögt’ ich ſagen, nahe kömmt — — — Was iſt Moral? Was iſt Tugend? Was iſt Ehrlichkeit und Liebe? — Thun, was andere mit Billigkeit von uus verlangen, und keinem Hauch oder Sturme des eignen Willens nach- geben — Mit Willenloſer Einfalt ſich immer an des an- dern Stelle denken; ſich in des andern Empfindungen hinein ſetzen — Sich ſelber über dem Leben für andere vergeſſen. — Man nenne irgend etwas, dem man den Namen Tugend, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Groß- muth, ſchöne Handlung, Adel, Liebe, Geiſtes- ſtärke, Erhabenheit, Bewundernswürdigkeit —
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[53[73]/0081]
Alles, was ihr wollet ꝛc.
wir uns von andern genieſſen laſſen, uns andern ab-
ſichtlich hingeben, deſto mehr genieſſen und beſitzen wir
uns ſelbſt. Auch in dieſem Sinn iſt’s wahr: Wer
ſein Leben verliert, der findet es. Wer iſt mehr,
lebt mehr, fühlt ſein Leben kräftiger, ſüſſer, inniger,
als wer ſeiner ſelbſt am meiſten nnd ſeiner Nebenmen-
ſchen am wenigſten vergißt! Hat nicht jeder, jeder für
ſich ſelber dann am meiſten Achtung — (und Ach-
tung für ſich ſelbſt haben, iſt warlich kein geringes
Theil der würdigſten Menſchen Seeligkeit —) Iſt nicht
jeder der Achtung anderer in dem Maße ſicher, wie
er uneigennützig, für ſich ſelbſt Abſichtlos, für andere
hingegeben, treuherzig wirkſam iſt? — Man denke
ſich einen Menſchen einen einzigen Tag dem Buchſta-
ſten und Geiſte dieſes Grundgeſetzes Chriſti gemäß han-
delnd — wird man ſich enthalten können, ihm nicht
ſo faſt mit Worten als mit allen Bewegungen und Em-
pfindungen der Seele die tiefſte Hochachtung und eine
Bewunderung zu bezeugen, die der Anbethung, mögt’
ich ſagen, nahe kömmt — — — Was iſt Moral?
Was iſt Tugend? Was iſt Ehrlichkeit und Liebe? —
Thun, was andere mit Billigkeit von uus verlangen,
und keinem Hauch oder Sturme des eignen Willens nach-
geben — Mit Willenloſer Einfalt ſich immer an des an-
dern Stelle denken; ſich in des andern Empfindungen
hinein ſetzen — Sich ſelber über dem Leben für andere
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 53[73]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/81>, abgerufen am 16.02.2025.
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