Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Markus XV.
was Er nicht wissen wollte -- Er wartete gern des Va-
ters neue Offenbahrungen ab; Denn alles, was Er
hatte, das hatte Er vom Vater; Was Er wußte, wußte
Er durch Ihn; Was Er war, war Er aus Ihm und
in Ihm. Er sprach immer mit der tiefften Verehrung
von seinem Vater, als Sohn. Dieß war sein heiligstes
Verhältniß. Gehorsam, Dankbarkeit, Anbethung des
Vaters war sein ganzes Wesen. Dieser kindliche Sinn
gieng so weit, daß Er nicht einmahl den Tag des letz-
ten feyerlichen Weltgerichts wissen wollte.

Markus XV.
23.
Neid.

Pilatus wußte, daß die Hohenpriester Je-
Mark. XV.
10.
sum aus Neid überantwortet hatten. Was hat
also die Unschuld ans Kreuz gebracht? Was die Weis-
heit zum Gespötte der Thoren gemacht? Was den Her-
zogen des Lebens neben den Mörder gestellt? -- Der
Neid! -- Er sprach als ein Gewalthaber und nicht
wie die Schriftgelehrten. Der Beyfall des Volkes
und der Herzen, den Er sich erwarb, ohn' ihn erwer-
ben zu wollen -- hatte den Neid der Angesehenen aufs
äusserste gereitzt. Je höher er in der Meynung des
Volkes stieg, desto entschlossener und unerbittlicher
ward die Mordsucht der Aeltesten Israels. Neid --
war der erste Mörder, und wird vermuthlich der letzte
bleiben. Neid -- die Lieblingsleidenschaft des Satans

-- die

Markus XV.
was Er nicht wiſſen wollte — Er wartete gern des Va-
ters neue Offenbahrungen ab; Denn alles, was Er
hatte, das hatte Er vom Vater; Was Er wußte, wußte
Er durch Ihn; Was Er war, war Er aus Ihm und
in Ihm. Er ſprach immer mit der tiefften Verehrung
von ſeinem Vater, als Sohn. Dieß war ſein heiligſtes
Verhältniß. Gehorſam, Dankbarkeit, Anbethung des
Vaters war ſein ganzes Weſen. Dieſer kindliche Sinn
gieng ſo weit, daß Er nicht einmahl den Tag des letz-
ten feyerlichen Weltgerichts wiſſen wollte.

Markus XV.
23.
Neid.

Pilatus wußte, daß die Hohenprieſter Je-
Mark. XV.
10.
ſum aus Neid überantwortet hatten. Was hat
alſo die Unſchuld ans Kreuz gebracht? Was die Weis-
heit zum Geſpötte der Thoren gemacht? Was den Her-
zogen des Lebens neben den Mörder geſtellt? — Der
Neid! — Er ſprach als ein Gewalthaber und nicht
wie die Schriftgelehrten. Der Beyfall des Volkes
und der Herzen, den Er ſich erwarb, ohn’ ihn erwer-
ben zu wollen — hatte den Neid der Angeſehenen aufs
äuſſerſte gereitzt. Je höher er in der Meynung des
Volkes ſtieg, deſto entſchloſſener und unerbittlicher
ward die Mordſucht der Aelteſten Iſraels. Neid —
war der erſte Mörder, und wird vermuthlich der letzte
bleiben. Neid — die Lieblingsleidenſchaft des Satans

— die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0610" n="582[602]"/><fw place="top" type="header">Markus <hi rendition="#aq">XV.</hi></fw><lb/>
was Er nicht wi&#x017F;&#x017F;en wollte &#x2014; Er wartete gern des Va-<lb/>
ters neue Offenbahrungen ab; Denn alles, was Er<lb/>
hatte, das hatte Er vom Vater; Was Er wußte, wußte<lb/>
Er durch Ihn; Was Er war, war Er aus Ihm und<lb/>
in Ihm. Er &#x017F;prach immer mit der tiefften Verehrung<lb/>
von &#x017F;einem Vater, als Sohn. Dieß war &#x017F;ein heilig&#x017F;tes<lb/>
Verhältniß. Gehor&#x017F;am, Dankbarkeit, Anbethung des<lb/>
Vaters war &#x017F;ein ganzes We&#x017F;en. Die&#x017F;er kindliche Sinn<lb/>
gieng &#x017F;o weit, daß Er nicht einmahl den Tag des letz-<lb/>
ten feyerlichen Weltgerichts wi&#x017F;&#x017F;en wollte.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#g">Markus</hi> <hi rendition="#aq">XV.</hi> </head><lb/>
          <div n="3">
            <head>23.<lb/>
Neid.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Pilatus wußte, daß die Hohenprie&#x017F;ter Je-</hi><lb/><note place="left">Mark. <hi rendition="#aq">XV.</hi><lb/>
10.</note><hi rendition="#fr">&#x017F;um aus Neid überantwortet hatten.</hi> Was hat<lb/>
al&#x017F;o die Un&#x017F;chuld ans Kreuz gebracht? Was die Weis-<lb/>
heit zum Ge&#x017F;pötte der Thoren gemacht? Was den Her-<lb/>
zogen des Lebens neben den Mörder ge&#x017F;tellt? &#x2014; Der<lb/><hi rendition="#fr">Neid!</hi> &#x2014; Er &#x017F;prach als ein Gewalthaber und nicht<lb/>
wie die Schriftgelehrten. Der Beyfall des Volkes<lb/>
und der Herzen, den Er &#x017F;ich erwarb, ohn&#x2019; ihn erwer-<lb/>
ben zu wollen &#x2014; hatte den Neid der Ange&#x017F;ehenen aufs<lb/>
äu&#x017F;&#x017F;er&#x017F;te gereitzt. Je höher er in der Meynung des<lb/>
Volkes &#x017F;tieg, de&#x017F;to ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener und unerbittlicher<lb/>
ward die Mord&#x017F;ucht der Aelte&#x017F;ten I&#x017F;raels. Neid &#x2014;<lb/>
war der er&#x017F;te Mörder, und wird vermuthlich der letzte<lb/>
bleiben. <hi rendition="#fr">Neid</hi> &#x2014; die Lieblingsleiden&#x017F;chaft des Satans<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x2014; die</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[582[602]/0610] Markus XV. was Er nicht wiſſen wollte — Er wartete gern des Va- ters neue Offenbahrungen ab; Denn alles, was Er hatte, das hatte Er vom Vater; Was Er wußte, wußte Er durch Ihn; Was Er war, war Er aus Ihm und in Ihm. Er ſprach immer mit der tiefften Verehrung von ſeinem Vater, als Sohn. Dieß war ſein heiligſtes Verhältniß. Gehorſam, Dankbarkeit, Anbethung des Vaters war ſein ganzes Weſen. Dieſer kindliche Sinn gieng ſo weit, daß Er nicht einmahl den Tag des letz- ten feyerlichen Weltgerichts wiſſen wollte. Markus XV. 23. Neid. Pilatus wußte, daß die Hohenprieſter Je- ſum aus Neid überantwortet hatten. Was hat alſo die Unſchuld ans Kreuz gebracht? Was die Weis- heit zum Geſpötte der Thoren gemacht? Was den Her- zogen des Lebens neben den Mörder geſtellt? — Der Neid! — Er ſprach als ein Gewalthaber und nicht wie die Schriftgelehrten. Der Beyfall des Volkes und der Herzen, den Er ſich erwarb, ohn’ ihn erwer- ben zu wollen — hatte den Neid der Angeſehenen aufs äuſſerſte gereitzt. Je höher er in der Meynung des Volkes ſtieg, deſto entſchloſſener und unerbittlicher ward die Mordſucht der Aelteſten Iſraels. Neid — war der erſte Mörder, und wird vermuthlich der letzte bleiben. Neid — die Lieblingsleidenſchaft des Satans — die Mark. XV. 10.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/610
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 582[602]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/610>, abgerufen am 28.07.2024.