Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Letzter Befehl an die Apostel. einen Feind der Wahrheit, der sich öffentlich für dasChristenthum erklärt, und zugleich behauptet, und die Behauptung auszubreiten sucht; Die Ermahnungen, die Warnungen, die Tröstungen, die Verheissungen, mit Einem Worte die Lehren Jesu seyen eigentlich und ausschliessender Weise nur den Aposteln und mit nichten den Schülern derselben, oder den spätern Christen, ge- geben. Würde man den je für einen Israeliten haben halten können, der auf der einen Seite behauptet hät- te: Gott hätte auf Sinai unmittelbar die zehen Gebote gegeben; Und auf der andern Seite: Sie wären für Niemand, als die unmittelbaren Hörer der redenden Gottheit verbindlich; Die Kinder und Nachkommen der- selben könnten nur soviel davon nehmen, als ihnen be- lieben würde. Man suche mir aus den Vermahnungen und Verheissungen Jesu Eine aus, welche man will, die man nicht bloß für die Apostel, sondern für alle Chri- sten als schlechterdings verbindend ansieht, und sage mir: Warum man sie also ansieht, warum man sie den Christen als Christi Wort, als sein Gesetz, als sei- ne Verheissung an's Herz legt? Entweder ist dieser Grund gültig oder ungültig -- Ist er gültig -- so sey man redlich (consequent, gleichmäßig handelnd) und wende diesen gültigen Grund auf alle andere Stellen an, auf welche er nach eigenem Geständniß eben so rich- tig und eigentlich paßt; Oder dieser Grund ist ungül- tig, und dann sey man so einfältig und redlich, so consequent und gleichhandelnd, und wende ihn auch nicht einmahl auf eine einzige Stelle an. Man durch- denke M m 5
Letzter Befehl an die Apoſtel. einen Feind der Wahrheit, der ſich öffentlich für dasChriſtenthum erklärt, und zugleich behauptet, und die Behauptung auszubreiten ſucht; Die Ermahnungen, die Warnungen, die Tröſtungen, die Verheiſſungen, mit Einem Worte die Lehren Jeſu ſeyen eigentlich und ausſchlieſſender Weiſe nur den Apoſteln und mit nichten den Schülern derſelben, oder den ſpätern Chriſten, ge- geben. Würde man den je für einen Iſraeliten haben halten können, der auf der einen Seite behauptet hät- te: Gott hätte auf Sinai unmittelbar die zehen Gebote gegeben; Und auf der andern Seite: Sie wären für Niemand, als die unmittelbaren Hörer der redenden Gottheit verbindlich; Die Kinder und Nachkommen der- ſelben könnten nur ſoviel davon nehmen, als ihnen be- lieben würde. Man ſuche mir aus den Vermahnungen und Verheiſſungen Jeſu Eine aus, welche man will, die man nicht bloß für die Apoſtel, ſondern für alle Chri- ſten als ſchlechterdings verbindend anſieht, und ſage mir: Warum man ſie alſo anſieht, warum man ſie den Chriſten als Chriſti Wort, als ſein Geſetz, als ſei- ne Verheiſſung an’s Herz legt? Entweder iſt dieſer Grund gültig oder ungültig — Iſt er gültig — ſo ſey man redlich (conſequent, gleichmäßig handelnd) und wende dieſen gültigen Grund auf alle andere Stellen an, auf welche er nach eigenem Geſtändniß eben ſo rich- tig und eigentlich paßt; Oder dieſer Grund iſt ungül- tig, und dann ſey man ſo einfältig und redlich, ſo conſequent und gleichhandelnd, und wende ihn auch nicht einmahl auf eine einzige Stelle an. Man durch- denke M m 5
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Letzter Befehl an die Apoſtel.
einen Feind der Wahrheit, der ſich öffentlich für das
Chriſtenthum erklärt, und zugleich behauptet, und die
Behauptung auszubreiten ſucht; Die Ermahnungen, die
Warnungen, die Tröſtungen, die Verheiſſungen, mit
Einem Worte die Lehren Jeſu ſeyen eigentlich und
ausſchlieſſender Weiſe nur den Apoſteln und mit nichten
den Schülern derſelben, oder den ſpätern Chriſten, ge-
geben. Würde man den je für einen Iſraeliten haben
halten können, der auf der einen Seite behauptet hät-
te: Gott hätte auf Sinai unmittelbar die zehen Gebote
gegeben; Und auf der andern Seite: Sie wären für
Niemand, als die unmittelbaren Hörer der redenden
Gottheit verbindlich; Die Kinder und Nachkommen der-
ſelben könnten nur ſoviel davon nehmen, als ihnen be-
lieben würde. Man ſuche mir aus den Vermahnungen
und Verheiſſungen Jeſu Eine aus, welche man will,
die man nicht bloß für die Apoſtel, ſondern für alle Chri-
ſten als ſchlechterdings verbindend anſieht, und ſage
mir: Warum man ſie alſo anſieht, warum man ſie den
Chriſten als Chriſti Wort, als ſein Geſetz, als ſei-
ne Verheiſſung an’s Herz legt? Entweder iſt dieſer
Grund gültig oder ungültig — Iſt er gültig — ſo ſey
man redlich (conſequent, gleichmäßig handelnd) und
wende dieſen gültigen Grund auf alle andere Stellen
an, auf welche er nach eigenem Geſtändniß eben ſo rich-
tig und eigentlich paßt; Oder dieſer Grund iſt ungül-
tig, und dann ſey man ſo einfältig und redlich, ſo
conſequent und gleichhandelnd, und wende ihn auch
nicht einmahl auf eine einzige Stelle an. Man durch-
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