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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXVII.
237.
Finsterniß. Angst Jesu. Durst.
Matth.
XVII.
5-49.

Und von der sechsten Stunde an ward eine
Finsterniß über das ganze Land bis um die neunte
Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Je-
sus laut und sprach: Eli, Eli, lama Sabachtam?
Das ist: Mein Gott, mein Gott! Warum
hast du mich verlassen? Etliche aber, die da stun-
den, da sie das höreten, sprachen sie: Der ru-
fet dem Elias. Und bald lief einer unter ihnen,
nahm einen Schwamm und füllete ihn mit Eßig,
und steckete ihn auf ein Rohr, und tränkete Ihn.
Die andern aber sprachen: Halt, laß sehen, ob
Elias komme, und Ihm helfe.

Alles, was des Nachdenkens fähig ist, soll zum
Nachdenken über den gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit
erweckt werden, über dessen geheimnißvolles Leiden die
Gottheit selbst einen Vorhang zu ziehen scheint. Ohne
Zweifel häuften sich in der Seele Jesu binnen dieser so
lange daurenden furchtbaren Finsterniß alle bekannten
und unbekannten Leiden, deren die menschliche Seele
fähig ist -- Ohne Zweifel sank Er von einer Tiefe der
Bangigkeit und schrecklicher Vorstellungen von dem Ver-
falle der Menschheit in die andere -- ohne Zweifel schweb-
ten tausend Bilder von dem Jammer und den Sünden
seines Volkes und den unabsehlichen Folgen seiner Ruch-
losigkeit vor seiner Seele -- Wer will sich vermessen
auszusprechen, was ein sündiger, schwacher empfindli-

cher
Matthäus XXVII.
237.
Finſterniß. Angſt Jeſu. Durſt.
Matth.
XVII.
5-49.

Und von der ſechſten Stunde an ward eine
Finſterniß über das ganze Land bis um die neunte
Stunde. Und um die neunte Stunde ſchrie Je-
ſus laut und ſprach: Eli, Eli, lama Sabachtam?
Das iſt: Mein Gott, mein Gott! Warum
haſt du mich verlaſſen? Etliche aber, die da ſtun-
den, da ſie das höreten, ſprachen ſie: Der ru-
fet dem Elias. Und bald lief einer unter ihnen,
nahm einen Schwamm und füllete ihn mit Eßig,
und ſteckete ihn auf ein Rohr, und tränkete Ihn.
Die andern aber ſprachen: Halt, laß ſehen, ob
Elias komme, und Ihm helfe.

Alles, was des Nachdenkens fähig iſt, ſoll zum
Nachdenken über den gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit
erweckt werden, über deſſen geheimnißvolles Leiden die
Gottheit ſelbſt einen Vorhang zu ziehen ſcheint. Ohne
Zweifel häuften ſich in der Seele Jeſu binnen dieſer ſo
lange daurenden furchtbaren Finſterniß alle bekannten
und unbekannten Leiden, deren die menſchliche Seele
fähig iſt — Ohne Zweifel ſank Er von einer Tiefe der
Bangigkeit und ſchrecklicher Vorſtellungen von dem Ver-
falle der Menſchheit in die andere — ohne Zweifel ſchweb-
ten tauſend Bilder von dem Jammer und den Sünden
ſeines Volkes und den unabſehlichen Folgen ſeiner Ruch-
loſigkeit vor ſeiner Seele — Wer will ſich vermeſſen
auszuſprechen, was ein ſündiger, ſchwacher empfindli-

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[524[544]/0552] Matthäus XXVII. 237. Finſterniß. Angſt Jeſu. Durſt. Und von der ſechſten Stunde an ward eine Finſterniß über das ganze Land bis um die neunte Stunde. Und um die neunte Stunde ſchrie Je- ſus laut und ſprach: Eli, Eli, lama Sabachtam? Das iſt: Mein Gott, mein Gott! Warum haſt du mich verlaſſen? Etliche aber, die da ſtun- den, da ſie das höreten, ſprachen ſie: Der ru- fet dem Elias. Und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und füllete ihn mit Eßig, und ſteckete ihn auf ein Rohr, und tränkete Ihn. Die andern aber ſprachen: Halt, laß ſehen, ob Elias komme, und Ihm helfe. Alles, was des Nachdenkens fähig iſt, ſoll zum Nachdenken über den gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit erweckt werden, über deſſen geheimnißvolles Leiden die Gottheit ſelbſt einen Vorhang zu ziehen ſcheint. Ohne Zweifel häuften ſich in der Seele Jeſu binnen dieſer ſo lange daurenden furchtbaren Finſterniß alle bekannten und unbekannten Leiden, deren die menſchliche Seele fähig iſt — Ohne Zweifel ſank Er von einer Tiefe der Bangigkeit und ſchrecklicher Vorſtellungen von dem Ver- falle der Menſchheit in die andere — ohne Zweifel ſchweb- ten tauſend Bilder von dem Jammer und den Sünden ſeines Volkes und den unabſehlichen Folgen ſeiner Ruch- loſigkeit vor ſeiner Seele — Wer will ſich vermeſſen auszuſprechen, was ein ſündiger, ſchwacher empfindli- cher

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 524[544]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/552>, abgerufen am 22.11.2024.