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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXVI.
all keinen Sinn mehr haben für alles Schöne, Edle,
Göttliche. -- Edlere, zärtergebildete Menschen! Ihr
werdet es einigermassen, aber keiner von euch auch der
zärteste und edelste wird es ganz empfinden können, wie
dieser Verfall der Menschheit, diese schändliche Gefühl-
losigkeit, unserm Herrn wehe, ja viel weher thun muß-
te, als der leibliche Schmerz und der natürliche Eckel,
der von der Mißhandlung selbst herrührte.

Jesus, die göttliche Langmuth in Person, duldete
alles -- "So mißhandeln die sterblichen Menschen die
&q;Gottheit! So Sünder den, der allein Unsterblichkeit
&q;hat. Die Schmähungen derer," mußte Er in der
Tiefe seiner Seele denken, "die Dich schmähen,
&q;sind über Mich gefallen.
" Es sollte keine Art
von Schmach und Kränkung seyn, die Er nicht an sich
selbst erfahren wollte, der treue Hohepriester, Mittler
und Heerführer der Menschheit -- dessen unbeschreib-
lich erhabner Geist schon Jahrhunderte vorher durch
Jesaias die Worte -- wer sie lieset, der merke sie,
esaias L.ausgesprochen hatte ... Ich kleide den Himmel
mit Dunkelheit, und leg' ihm einen Sack an zur
Decke. Der Herr Herr hat Mir eine wohlge-
lehrte Zunge gegeben, daß Ich wisse mit dem
Müden zu rechter Zeit zu reden. Der Herr Herr
hat Mir das Ohr geöffnet, und Ich bin nicht
ungehorsam, und gehe nicht zurücke. Ich hielt
meinen Rücken dar, denen die Mich schlugen,
und meine Wangen, denen die Mich rauften.
Mein Angesicht verbarg Ich nicht vor Schmach

und

Matthäus XXVI.
all keinen Sinn mehr haben für alles Schöne, Edle,
Göttliche. — Edlere, zärtergebildete Menſchen! Ihr
werdet es einigermaſſen, aber keiner von euch auch der
zärteſte und edelſte wird es ganz empfinden können, wie
dieſer Verfall der Menſchheit, dieſe ſchändliche Gefühl-
loſigkeit, unſerm Herrn wehe, ja viel weher thun muß-
te, als der leibliche Schmerz und der natürliche Eckel,
der von der Mißhandlung ſelbſt herrührte.

Jeſus, die göttliche Langmuth in Perſon, duldete
alles — „So mißhandeln die ſterblichen Menſchen die
&q;Gottheit! So Sünder den, der allein Unſterblichkeit
&q;hat. Die Schmähungen derer,„ mußte Er in der
Tiefe ſeiner Seele denken, „die Dich ſchmähen,
&q;ſind über Mich gefallen.
„ Es ſollte keine Art
von Schmach und Kränkung ſeyn, die Er nicht an ſich
ſelbſt erfahren wollte, der treue Hoheprieſter, Mittler
und Heerführer der Menſchheit — deſſen unbeſchreib-
lich erhabner Geiſt ſchon Jahrhunderte vorher durch
Jeſaias die Worte — wer ſie lieſet, der merke ſie,
eſaias L.ausgeſprochen hatte ... Ich kleide den Himmel
mit Dunkelheit, und leg’ ihm einen Sack an zur
Decke. Der Herr Herr hat Mir eine wohlge-
lehrte Zunge gegeben, daß Ich wiſſe mit dem
Müden zu rechter Zeit zu reden. Der Herr Herr
hat Mir das Ohr geöffnet, und Ich bin nicht
ungehorſam, und gehe nicht zurücke. Ich hielt
meinen Rücken dar, denen die Mich ſchlugen,
und meine Wangen, denen die Mich rauften.
Mein Angeſicht verbarg Ich nicht vor Schmach

und
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[490[510]/0518] Matthäus XXVI. all keinen Sinn mehr haben für alles Schöne, Edle, Göttliche. — Edlere, zärtergebildete Menſchen! Ihr werdet es einigermaſſen, aber keiner von euch auch der zärteſte und edelſte wird es ganz empfinden können, wie dieſer Verfall der Menſchheit, dieſe ſchändliche Gefühl- loſigkeit, unſerm Herrn wehe, ja viel weher thun muß- te, als der leibliche Schmerz und der natürliche Eckel, der von der Mißhandlung ſelbſt herrührte. Jeſus, die göttliche Langmuth in Perſon, duldete alles — „So mißhandeln die ſterblichen Menſchen die &q;Gottheit! So Sünder den, der allein Unſterblichkeit &q;hat. Die Schmähungen derer,„ mußte Er in der Tiefe ſeiner Seele denken, „die Dich ſchmähen, &q;ſind über Mich gefallen.„ Es ſollte keine Art von Schmach und Kränkung ſeyn, die Er nicht an ſich ſelbſt erfahren wollte, der treue Hoheprieſter, Mittler und Heerführer der Menſchheit — deſſen unbeſchreib- lich erhabner Geiſt ſchon Jahrhunderte vorher durch Jeſaias die Worte — wer ſie lieſet, der merke ſie, ausgeſprochen hatte ... Ich kleide den Himmel mit Dunkelheit, und leg’ ihm einen Sack an zur Decke. Der Herr Herr hat Mir eine wohlge- lehrte Zunge gegeben, daß Ich wiſſe mit dem Müden zu rechter Zeit zu reden. Der Herr Herr hat Mir das Ohr geöffnet, und Ich bin nicht ungehorſam, und gehe nicht zurücke. Ich hielt meinen Rücken dar, denen die Mich ſchlugen, und meine Wangen, denen die Mich rauften. Mein Angeſicht verbarg Ich nicht vor Schmach und eſaias L.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 490[510]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/518>, abgerufen am 24.11.2024.