kann: Er thut seine Werke bloß um von den Leu- ten gesehen zu werden. Wer mit gemessenem, kal- ten Vorsatze, nach einem entworfenen Plane -- sich vor den Menschen fromm, aufrichtig, wahrheitliebend, ge- recht, mäßig, keusch, demüthig, barmherzig -- stel- len kann, in deß seine Seele von alle dem lär ist, und an Falschheit, Lüge, Ungerechtigkeit, Wollust, Hoffarth, Unmenschlichkeit Wohlgefallen hat -- wer mit dem Schei- ne der Tugend andere nur täuschen, und unter diesem Scheine, seine Leidenschaften ungestraft befriedigen will -- dem muß jeder Gräuel der Hölle, jede Unthat der Bosheit ein kleines und leichtes seyn. Offenbare Böse- wichter, Lasterhafte ohne Schminke, neben denen der bewunderte Heuchler mit einer Mitleids- und Danks- Thräne der allsehenden Gottheit zu spotten verrucht ge- nug ist -- so böse, so grundverdorben, so verabscheuungs- würdig sind sie nicht, wie die Heuchler; So viel Un- heil und Jammer stiften sie nicht, wie der Heuchler.
"Nun ein Heuchler bin ich nicht, und will auch &q;keiner werden?" Lieber Bruder, liebe Schwester! Wer sich dünken läßt, daß er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle. Sey nicht stolz, sondern fürchte dich. Nichts ist so ein trauriges Zeichen der Verführ- barkeit, der Herzensschwäche, des nicht fernen Falles, als die stolze Selbstberedung: "O dahin kann's mit &q;mir nicht kommen; Davon bin ich unendlich weit ent- &q;fernt!" Ach, und vielleicht ist nur ein Hanenge- schrey dazwischen. Freylich, so grundverdorbene so boshafte, so mit Satanslist in Lichtengel vergestaltete, so
den
Matthäus XXIII.
kann: Er thut ſeine Werke bloß um von den Leu- ten geſehen zu werden. Wer mit gemeſſenem, kal- ten Vorſatze, nach einem entworfenen Plane — ſich vor den Menſchen fromm, aufrichtig, wahrheitliebend, ge- recht, mäßig, keuſch, demüthig, barmherzig — ſtel- len kann, in deß ſeine Seele von alle dem lär iſt, und an Falſchheit, Lüge, Ungerechtigkeit, Wolluſt, Hoffarth, Unmenſchlichkeit Wohlgefallen hat — wer mit dem Schei- ne der Tugend andere nur täuſchen, und unter dieſem Scheine, ſeine Leidenſchaften ungeſtraft befriedigen will — dem muß jeder Gräuel der Hölle, jede Unthat der Bosheit ein kleines und leichtes ſeyn. Offenbare Böſe- wichter, Laſterhafte ohne Schminke, neben denen der bewunderte Heuchler mit einer Mitleids- und Danks- Thräne der allſehenden Gottheit zu ſpotten verrucht ge- nug iſt — ſo böſe, ſo grundverdorben, ſo verabſcheuungs- würdig ſind ſie nicht, wie die Heuchler; So viel Un- heil und Jammer ſtiften ſie nicht, wie der Heuchler.
„Nun ein Heuchler bin ich nicht, und will auch &q;keiner werden?„ Lieber Bruder, liebe Schweſter! Wer ſich dünken läßt, daß er ſtehe, der ſehe zu, daß er nicht falle. Sey nicht ſtolz, ſondern fürchte dich. Nichts iſt ſo ein trauriges Zeichen der Verführ- barkeit, der Herzensſchwäche, des nicht fernen Falles, als die ſtolze Selbſtberedung: „O dahin kann’s mit &q;mir nicht kommen; Davon bin ich unendlich weit ent- &q;fernt!„ Ach, und vielleicht iſt nur ein Hanenge- ſchrey dazwiſchen. Freylich, ſo grundverdorbene ſo boshafte, ſo mit Satansliſt in Lichtengel vergeſtaltete, ſo
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[350[370]/0378]
Matthäus XXIII.
kann: Er thut ſeine Werke bloß um von den Leu-
ten geſehen zu werden. Wer mit gemeſſenem, kal-
ten Vorſatze, nach einem entworfenen Plane — ſich vor
den Menſchen fromm, aufrichtig, wahrheitliebend, ge-
recht, mäßig, keuſch, demüthig, barmherzig — ſtel-
len kann, in deß ſeine Seele von alle dem lär iſt, und
an Falſchheit, Lüge, Ungerechtigkeit, Wolluſt, Hoffarth,
Unmenſchlichkeit Wohlgefallen hat — wer mit dem Schei-
ne der Tugend andere nur täuſchen, und unter dieſem
Scheine, ſeine Leidenſchaften ungeſtraft befriedigen will
— dem muß jeder Gräuel der Hölle, jede Unthat der
Bosheit ein kleines und leichtes ſeyn. Offenbare Böſe-
wichter, Laſterhafte ohne Schminke, neben denen der
bewunderte Heuchler mit einer Mitleids- und Danks-
Thräne der allſehenden Gottheit zu ſpotten verrucht ge-
nug iſt — ſo böſe, ſo grundverdorben, ſo verabſcheuungs-
würdig ſind ſie nicht, wie die Heuchler; So viel Un-
heil und Jammer ſtiften ſie nicht, wie der Heuchler.
„Nun ein Heuchler bin ich nicht, und will auch
&q;keiner werden?„ Lieber Bruder, liebe Schweſter!
Wer ſich dünken läßt, daß er ſtehe, der ſehe zu,
daß er nicht falle. Sey nicht ſtolz, ſondern fürchte
dich. Nichts iſt ſo ein trauriges Zeichen der Verführ-
barkeit, der Herzensſchwäche, des nicht fernen Falles,
als die ſtolze Selbſtberedung: „O dahin kann’s mit
&q;mir nicht kommen; Davon bin ich unendlich weit ent-
&q;fernt!„ Ach, und vielleicht iſt nur ein Hanenge-
ſchrey dazwiſchen. Freylich, ſo grundverdorbene ſo
boshafte, ſo mit Satansliſt in Lichtengel vergeſtaltete, ſo
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 350[370]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/378>, abgerufen am 23.11.2024.
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