"Streitet nur weiter, Fichte und Stein: Bildung und Charakter, Denken und Wollen, Natur und Frei- heit, braucht ihr nicht beide? Habt ihr nicht beide? Aber wo ließet ihr das Glück? Jch hab's nicht gesehen, wo ich vorbeizog, es muß wohl dort wohnen, wo Tröpfchen nicht hin kam, woher das Lied klang, das der Wanderer ersann am Waldesrand? Aber ich bin ja auch nur ein Wölkchen geworden, und keine Thräne --"
Die Abendsonne lag grüßend auf der Fichte, da stand das Wölkchen mit rosigem Scheine über ihr.
Auf dem Steine saß wieder jener Wanderer, doch nicht allein. Eine zärtliche Gestalt in hellem Gewande schmiegte sich neben ihn, und in ihren Schoß schüttete ein Kind fröhlich lachend einen Strauß von Haideröschen Aber plötzlich schreit der Knabe auf und zieht blutend die Hand zurück. "Sieh wie die bösen Dornen mich gestochen haben!" ruft er schon wieder lächelnd. "Warum müssen die Rosen Dornen haben?"
Der Vater nahm seinen Kopf zwischen die Hände und sagte ernsthaft: "Siehst Du das rosige Wölkchen dort oben? Würde es wohl so schön erglänzen, wenn nicht die Sonne jetzt unterginge und die Nacht herauf- stiege? Hast Du nicht gehört vom starken Helden Sieg- fried, daß selbst ihn die Todeswunde treffen konnte? Es kann nichts geben in der Welt, nichts Herrliches, an dem nicht ein Flecken, nichts Gutes, an dem nicht ein Tadel wäre -- das ist nun Menschenloos, daß auch dem Besten etwas fehlen muß."
Aufmerksam lauschte der Knabe und schwieg nach-
Tröpfchen.
„Streitet nur weiter, Fichte und Stein: Bildung und Charakter, Denken und Wollen, Natur und Frei- heit, braucht ihr nicht beide? Habt ihr nicht beide? Aber wo ließet ihr das Glück? Jch hab’s nicht geſehen, wo ich vorbeizog, es muß wohl dort wohnen, wo Tröpfchen nicht hin kam, woher das Lied klang, das der Wanderer erſann am Waldesrand? Aber ich bin ja auch nur ein Wölkchen geworden, und keine Thräne —“
Die Abendſonne lag grüßend auf der Fichte, da ſtand das Wölkchen mit roſigem Scheine über ihr.
Auf dem Steine ſaß wieder jener Wanderer, doch nicht allein. Eine zärtliche Geſtalt in hellem Gewande ſchmiegte ſich neben ihn, und in ihren Schoß ſchüttete ein Kind fröhlich lachend einen Strauß von Haideröschen Aber plötzlich ſchreit der Knabe auf und zieht blutend die Hand zurück. „Sieh wie die böſen Dornen mich geſtochen haben!“ ruft er ſchon wieder lächelnd. „Warum müſſen die Roſen Dornen haben?“
Der Vater nahm ſeinen Kopf zwiſchen die Hände und ſagte ernſthaft: „Siehſt Du das roſige Wölkchen dort oben? Würde es wohl ſo ſchön erglänzen, wenn nicht die Sonne jetzt unterginge und die Nacht herauf- ſtiege? Haſt Du nicht gehört vom ſtarken Helden Sieg- fried, daß ſelbſt ihn die Todeswunde treffen konnte? Es kann nichts geben in der Welt, nichts Herrliches, an dem nicht ein Flecken, nichts Gutes, an dem nicht ein Tadel wäre — das iſt nun Menſchenloos, daß auch dem Beſten etwas fehlen muß.“
Aufmerkſam lauſchte der Knabe und ſchwieg nach-
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Tröpfchen.
„Streitet nur weiter, Fichte und Stein: Bildung
und Charakter, Denken und Wollen, Natur und Frei-
heit, braucht ihr nicht beide? Habt ihr nicht beide? Aber
wo ließet ihr das Glück? Jch hab’s nicht geſehen, wo
ich vorbeizog, es muß wohl dort wohnen, wo Tröpfchen
nicht hin kam, woher das Lied klang, das der Wanderer
erſann am Waldesrand? Aber ich bin ja auch nur ein
Wölkchen geworden, und keine Thräne —“
Die Abendſonne lag grüßend auf der Fichte, da ſtand
das Wölkchen mit roſigem Scheine über ihr.
Auf dem Steine ſaß wieder jener Wanderer, doch
nicht allein. Eine zärtliche Geſtalt in hellem Gewande
ſchmiegte ſich neben ihn, und in ihren Schoß ſchüttete
ein Kind fröhlich lachend einen Strauß von Haideröschen
Aber plötzlich ſchreit der Knabe auf und zieht blutend
die Hand zurück. „Sieh wie die böſen Dornen mich
geſtochen haben!“ ruft er ſchon wieder lächelnd. „Warum
müſſen die Roſen Dornen haben?“
Der Vater nahm ſeinen Kopf zwiſchen die Hände
und ſagte ernſthaft: „Siehſt Du das roſige Wölkchen
dort oben? Würde es wohl ſo ſchön erglänzen, wenn
nicht die Sonne jetzt unterginge und die Nacht herauf-
ſtiege? Haſt Du nicht gehört vom ſtarken Helden Sieg-
fried, daß ſelbſt ihn die Todeswunde treffen konnte? Es
kann nichts geben in der Welt, nichts Herrliches, an dem
nicht ein Flecken, nichts Gutes, an dem nicht ein Tadel
wäre — das iſt nun Menſchenloos, daß auch dem
Beſten etwas fehlen muß.“
Aufmerkſam lauſchte der Knabe und ſchwieg nach-
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Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_seife_1890/248>, abgerufen am 26.06.2024.
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