nommen hatte. Man schlief mehr, wie früher. Sobald dies statistisch festgestellt worden, erschien der Coppernikus des Schlafproblems, welcher die große Frage durch ihre Umkehr löste und dem alternden Europa einen neuen Völkerfrühling verhieß, wenn es sich dem intensiven Massenschlafe zu huldigen entschlösse.
Die Biomystik, eine neue Stufe der veralteten Biologie, hatte die Entdeckung gemacht, daß die Tendenz der menschlichen Entwickelung nach der Seite des Schlaf- und Traumlebens gerichtet sei. Daß der Mensch mit der rauhen Wirklichkeit zurecht kommen könne, hatte sich als eine Täuschung der Realisten erwiesen; je mehr die Kultur fortschritt, um so ohnmächtiger stand sie den Forderungen des Tages gegenüber, um so weniger ver- mochte sie den neuen sozialen Problemen gerecht zu werden. Aber die Natur reguliert sich bekanntlich selbst. Was die Kultur nicht leisten konnte, schien der Orga- nismus übernehmen zu wollen. Der moderne Mensch schlief, er schlief viel mehr als der Mensch des neun- zehnten Jahrhunderts, welcher doch zweifellos schon verschlafener war als der antike Mensch. Mehr schlafen, mehr träumen! Das war die einfache biologische Lösung des großen Kulturrätsels, auf welche die Philo- sophen des neunzehnten Jahrhunderts nicht gekommen waren. Und die Sache lag doch so einfach.
Der moderne Kulturfortschritt charakterisiert sich durch die immer mehr hervortretende Übertragung der Arbeit von dem Körper auf den Geist. Muskelan- strengung wird durch Gehirnleistung ersetzt. Die na-
Der Traumfabrikant.
nommen hatte. Man ſchlief mehr, wie früher. Sobald dies ſtatiſtiſch feſtgeſtellt worden, erſchien der Coppernikus des Schlafproblems, welcher die große Frage durch ihre Umkehr löſte und dem alternden Europa einen neuen Völkerfrühling verhieß, wenn es ſich dem intenſiven Maſſenſchlafe zu huldigen entſchlöſſe.
Die Biomyſtik, eine neue Stufe der veralteten Biologie, hatte die Entdeckung gemacht, daß die Tendenz der menſchlichen Entwickelung nach der Seite des Schlaf- und Traumlebens gerichtet ſei. Daß der Menſch mit der rauhen Wirklichkeit zurecht kommen könne, hatte ſich als eine Täuſchung der Realiſten erwieſen; je mehr die Kultur fortſchritt, um ſo ohnmächtiger ſtand ſie den Forderungen des Tages gegenüber, um ſo weniger ver- mochte ſie den neuen ſozialen Problemen gerecht zu werden. Aber die Natur reguliert ſich bekanntlich ſelbſt. Was die Kultur nicht leiſten konnte, ſchien der Orga- nismus übernehmen zu wollen. Der moderne Menſch ſchlief, er ſchlief viel mehr als der Menſch des neun- zehnten Jahrhunderts, welcher doch zweifellos ſchon verſchlafener war als der antike Menſch. Mehr ſchlafen, mehr träumen! Das war die einfache biologiſche Löſung des großen Kulturrätſels, auf welche die Philo- ſophen des neunzehnten Jahrhunderts nicht gekommen waren. Und die Sache lag doch ſo einfach.
Der moderne Kulturfortſchritt charakteriſiert ſich durch die immer mehr hervortretende Übertragung der Arbeit von dem Körper auf den Geiſt. Muskelan- ſtrengung wird durch Gehirnleiſtung erſetzt. Die na-
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Der Traumfabrikant.
nommen hatte. Man ſchlief mehr, wie früher. Sobald
dies ſtatiſtiſch feſtgeſtellt worden, erſchien der Coppernikus
des Schlafproblems, welcher die große Frage durch ihre
Umkehr löſte und dem alternden Europa einen neuen
Völkerfrühling verhieß, wenn es ſich dem intenſiven
Maſſenſchlafe zu huldigen entſchlöſſe.
Die Biomyſtik, eine neue Stufe der veralteten
Biologie, hatte die Entdeckung gemacht, daß die Tendenz
der menſchlichen Entwickelung nach der Seite des Schlaf-
und Traumlebens gerichtet ſei. Daß der Menſch mit
der rauhen Wirklichkeit zurecht kommen könne, hatte ſich
als eine Täuſchung der Realiſten erwieſen; je mehr die
Kultur fortſchritt, um ſo ohnmächtiger ſtand ſie den
Forderungen des Tages gegenüber, um ſo weniger ver-
mochte ſie den neuen ſozialen Problemen gerecht zu
werden. Aber die Natur reguliert ſich bekanntlich ſelbſt.
Was die Kultur nicht leiſten konnte, ſchien der Orga-
nismus übernehmen zu wollen. Der moderne Menſch
ſchlief, er ſchlief viel mehr als der Menſch des neun-
zehnten Jahrhunderts, welcher doch zweifellos ſchon
verſchlafener war als der antike Menſch. Mehr ſchlafen,
mehr träumen! Das war die einfache biologiſche
Löſung des großen Kulturrätſels, auf welche die Philo-
ſophen des neunzehnten Jahrhunderts nicht gekommen
waren. Und die Sache lag doch ſo einfach.
Der moderne Kulturfortſchritt charakteriſiert ſich
durch die immer mehr hervortretende Übertragung der
Arbeit von dem Körper auf den Geiſt. Muskelan-
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Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_seife_1890/145>, abgerufen am 22.07.2024.
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