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Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890.

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Aus dem Tagebnche einer Ameise.
nicht, daß draußen der Tag längst angebrochen war, als
wir durch die laute Stimme der Mutter aufmerksam
gemacht wurden. Noch hofften wir verborgen bleiben
zu können. Wir lauschten mit unsern Ferntastern. Sie
stritt mit Lydia und verlangte von ihr den Schlüssel
des Schränkchens. Plötzlich wurden wir vom hellen
Tageslicht geblendet, das durch die geöffnete Thür schien.
Die Mutter guckte herein, aber ehe wir uns retten
konnten, schlug sie die Thür wieder zu und schrie:

"Wieder Ameisen! Ein ganzes Nest! Und über den
Honig sind sie auch gegangen. Wo ist der Spiritus?
Wir wollen sie hineinthun, Ameisenspiritus ist so gut
gegen Rheumatismus. Jch will nur ein Töpfchen holen."

Ameisenspiritus! Entsetzlich! Was wollte man mit
uns? Zerquetschen? Ertränken? Und nirgends eine
Rettung? Wir kletterten zum Schlüsselloch'; es war un-
zugänglich, der Schlüssel steckte darin -- kaum ein
Keulenkäferchen hätte sich durchdrängen können. Nirgends
ein Spalt, eine Ritze, überall die glatte Politur -- wir
rannten ohne Überlegung umher. Da öffnet sich noch
einmal die Thür auf einen Moment, Lydias Hand greift
hinein und erfaßt das Päckchen Papier, das sie schnell
in ihre Tasche gleiten läßt. Einige von den unsern
werden dabei hinausgeschleudert und vernichtet. Die
Thür ist wieder geschlossen. Wir hören die Alte zurück-
kommen, sie ruft nach dem Spiritus -- da, beim Her-
ausreißen der Papiere hat sich der Deckel eines Papp-
kästchens verschoben, wir kriechen durch den schmalen
Spalt. Auf Watte lag ein großer gewundener Wurm

Aus dem Tagebnche einer Ameiſe.
nicht, daß draußen der Tag längſt angebrochen war, als
wir durch die laute Stimme der Mutter aufmerkſam
gemacht wurden. Noch hofften wir verborgen bleiben
zu können. Wir lauſchten mit unſern Ferntaſtern. Sie
ſtritt mit Lydia und verlangte von ihr den Schlüſſel
des Schränkchens. Plötzlich wurden wir vom hellen
Tageslicht geblendet, das durch die geöffnete Thür ſchien.
Die Mutter guckte herein, aber ehe wir uns retten
konnten, ſchlug ſie die Thür wieder zu und ſchrie:

„Wieder Ameiſen! Ein ganzes Neſt! Und über den
Honig ſind ſie auch gegangen. Wo iſt der Spiritus?
Wir wollen ſie hineinthun, Ameiſenſpiritus iſt ſo gut
gegen Rheumatismus. Jch will nur ein Töpfchen holen.“

Ameiſenſpiritus! Entſetzlich! Was wollte man mit
uns? Zerquetſchen? Ertränken? Und nirgends eine
Rettung? Wir kletterten zum Schlüſſelloch’; es war un-
zugänglich, der Schlüſſel ſteckte darin — kaum ein
Keulenkäferchen hätte ſich durchdrängen können. Nirgends
ein Spalt, eine Ritze, überall die glatte Politur — wir
rannten ohne Überlegung umher. Da öffnet ſich noch
einmal die Thür auf einen Moment, Lydias Hand greift
hinein und erfaßt das Päckchen Papier, das ſie ſchnell
in ihre Taſche gleiten läßt. Einige von den unſern
werden dabei hinausgeſchleudert und vernichtet. Die
Thür iſt wieder geſchloſſen. Wir hören die Alte zurück-
kommen, ſie ruft nach dem Spiritus — da, beim Her-
ausreißen der Papiere hat ſich der Deckel eines Papp-
käſtchens verſchoben, wir kriechen durch den ſchmalen
Spalt. Auf Watte lag ein großer gewundener Wurm

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[108/0114] Aus dem Tagebnche einer Ameiſe. nicht, daß draußen der Tag längſt angebrochen war, als wir durch die laute Stimme der Mutter aufmerkſam gemacht wurden. Noch hofften wir verborgen bleiben zu können. Wir lauſchten mit unſern Ferntaſtern. Sie ſtritt mit Lydia und verlangte von ihr den Schlüſſel des Schränkchens. Plötzlich wurden wir vom hellen Tageslicht geblendet, das durch die geöffnete Thür ſchien. Die Mutter guckte herein, aber ehe wir uns retten konnten, ſchlug ſie die Thür wieder zu und ſchrie: „Wieder Ameiſen! Ein ganzes Neſt! Und über den Honig ſind ſie auch gegangen. Wo iſt der Spiritus? Wir wollen ſie hineinthun, Ameiſenſpiritus iſt ſo gut gegen Rheumatismus. Jch will nur ein Töpfchen holen.“ Ameiſenſpiritus! Entſetzlich! Was wollte man mit uns? Zerquetſchen? Ertränken? Und nirgends eine Rettung? Wir kletterten zum Schlüſſelloch’; es war un- zugänglich, der Schlüſſel ſteckte darin — kaum ein Keulenkäferchen hätte ſich durchdrängen können. Nirgends ein Spalt, eine Ritze, überall die glatte Politur — wir rannten ohne Überlegung umher. Da öffnet ſich noch einmal die Thür auf einen Moment, Lydias Hand greift hinein und erfaßt das Päckchen Papier, das ſie ſchnell in ihre Taſche gleiten läßt. Einige von den unſern werden dabei hinausgeſchleudert und vernichtet. Die Thür iſt wieder geſchloſſen. Wir hören die Alte zurück- kommen, ſie ruft nach dem Spiritus — da, beim Her- ausreißen der Papiere hat ſich der Deckel eines Papp- käſtchens verſchoben, wir kriechen durch den ſchmalen Spalt. Auf Watte lag ein großer gewundener Wurm

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Seifenblasen. Hamburg, 1890, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_seife_1890/114>, abgerufen am 04.05.2024.