Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Bd. 2. Weimar, 1897.Zweiunddreißigstes Kapitel. es nicht zu begreifen, daß dasselbe lebendige Jndividuumgleichzeitig ganz verschiedene Realitäten besitzt, je nach dem Zusammenhange, in welchem es sich bestimmt. Die Frau an der Schreibmaschine ist ein Stück Natur- mechanismus, die den notwendigen Zusammenhang zwischen verschiedenen Zeichen für dieselbe Vorstellung registriert, wenn sie, wie ich hier, Eure langweilige Geschichte übersetzt. Dieselbe Frau, wenn sie den Freund zärtlich anblickt, ist ein Stück des Phantasie- spiels, das unser Leben mit seinem schönen Scheine verklärt. Und wenn sie ein Versprechen einlöst, ist sie ein Stück der ethischen Gemeinschaft der Nume. Aber keine dieser Realitäten wirkt auf die andre, kann die andre verpflichten, außer in der freien Bestimmung der Persönlichkeit dieser Frau selbst. Das kann unser Freund nicht verstehen. Er denkt immer, es müsse noch ein andrer Zusammenhang bestehen, notwendig wie die Natur in Raum und Zeit, zwischen diesen Thätigkeiten --" "Sehen Sie -- dieser Mangel der Einsicht ist es, Zweiunddreißigſtes Kapitel. es nicht zu begreifen, daß dasſelbe lebendige Jndividuumgleichzeitig ganz verſchiedene Realitäten beſitzt, je nach dem Zuſammenhange, in welchem es ſich beſtimmt. Die Frau an der Schreibmaſchine iſt ein Stück Natur- mechanismus, die den notwendigen Zuſammenhang zwiſchen verſchiedenen Zeichen für dieſelbe Vorſtellung regiſtriert, wenn ſie, wie ich hier, Eure langweilige Geſchichte überſetzt. Dieſelbe Frau, wenn ſie den Freund zärtlich anblickt, iſt ein Stück des Phantaſie- ſpiels, das unſer Leben mit ſeinem ſchönen Scheine verklärt. Und wenn ſie ein Verſprechen einlöſt, iſt ſie ein Stück der ethiſchen Gemeinſchaft der Nume. Aber keine dieſer Realitäten wirkt auf die andre, kann die andre verpflichten, außer in der freien Beſtimmung der Perſönlichkeit dieſer Frau ſelbſt. Das kann unſer Freund nicht verſtehen. Er denkt immer, es müſſe noch ein andrer Zuſammenhang beſtehen, notwendig wie die Natur in Raum und Zeit, zwiſchen dieſen Thätigkeiten —‟ „Sehen Sie — dieſer Mangel der Einſicht iſt es, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0102" n="94"/><fw place="top" type="header">Zweiunddreißigſtes Kapitel.</fw><lb/> es nicht zu begreifen, daß dasſelbe lebendige Jndividuum<lb/> gleichzeitig ganz verſchiedene Realitäten beſitzt, je nach<lb/> dem Zuſammenhange, in welchem es ſich beſtimmt.<lb/> Die Frau an der Schreibmaſchine iſt ein Stück Natur-<lb/> mechanismus, die den notwendigen Zuſammenhang<lb/> zwiſchen verſchiedenen Zeichen für dieſelbe Vorſtellung<lb/> regiſtriert, wenn ſie, wie ich hier, Eure langweilige<lb/> Geſchichte überſetzt. Dieſelbe Frau, wenn ſie den<lb/> Freund zärtlich anblickt, iſt ein Stück des Phantaſie-<lb/> ſpiels, das unſer Leben mit ſeinem ſchönen Scheine<lb/> verklärt. Und wenn ſie ein Verſprechen einlöſt, iſt ſie<lb/> ein Stück der ethiſchen Gemeinſchaft der Nume. Aber<lb/> keine dieſer Realitäten wirkt auf die andre, kann die<lb/> andre verpflichten, außer in der freien Beſtimmung<lb/> der Perſönlichkeit dieſer Frau ſelbſt. Das kann unſer<lb/> Freund nicht verſtehen. Er denkt immer, es müſſe<lb/> noch ein andrer Zuſammenhang beſtehen, notwendig<lb/> wie die Natur in Raum und Zeit, zwiſchen dieſen<lb/> Thätigkeiten —‟</p><lb/> <p>„Sehen Sie — dieſer Mangel der Einſicht iſt es,<lb/> welcher die menſchliche Geſellſchaft beſchwert. Stets<lb/> werfen ſie das Verſchiedene zuſammen als Eines, indem<lb/> ſie es mit falſchen Gefühlswerten belaſten. Da iſt der<lb/> religiöſe Glaube; er iſt die Form, wie die Perſönlich-<lb/> keit das Weltgeſetz in ihr Gefühl aufnimmt; die<lb/> Menſchen aber machen daraus ein Bekenntnis, das<lb/> andre verpflichten ſoll und ſich damit aufhebt. Da<lb/> iſt das Vaterland, die nationale Gemeinſchaft; ſie iſt<lb/> ein Mittel, die Macht des Einzelnen zuſammenzufaſſen,<lb/> um für die Menſchheit zu wirken; die Menſchen um-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [94/0102]
Zweiunddreißigſtes Kapitel.
es nicht zu begreifen, daß dasſelbe lebendige Jndividuum
gleichzeitig ganz verſchiedene Realitäten beſitzt, je nach
dem Zuſammenhange, in welchem es ſich beſtimmt.
Die Frau an der Schreibmaſchine iſt ein Stück Natur-
mechanismus, die den notwendigen Zuſammenhang
zwiſchen verſchiedenen Zeichen für dieſelbe Vorſtellung
regiſtriert, wenn ſie, wie ich hier, Eure langweilige
Geſchichte überſetzt. Dieſelbe Frau, wenn ſie den
Freund zärtlich anblickt, iſt ein Stück des Phantaſie-
ſpiels, das unſer Leben mit ſeinem ſchönen Scheine
verklärt. Und wenn ſie ein Verſprechen einlöſt, iſt ſie
ein Stück der ethiſchen Gemeinſchaft der Nume. Aber
keine dieſer Realitäten wirkt auf die andre, kann die
andre verpflichten, außer in der freien Beſtimmung
der Perſönlichkeit dieſer Frau ſelbſt. Das kann unſer
Freund nicht verſtehen. Er denkt immer, es müſſe
noch ein andrer Zuſammenhang beſtehen, notwendig
wie die Natur in Raum und Zeit, zwiſchen dieſen
Thätigkeiten —‟
„Sehen Sie — dieſer Mangel der Einſicht iſt es,
welcher die menſchliche Geſellſchaft beſchwert. Stets
werfen ſie das Verſchiedene zuſammen als Eines, indem
ſie es mit falſchen Gefühlswerten belaſten. Da iſt der
religiöſe Glaube; er iſt die Form, wie die Perſönlich-
keit das Weltgeſetz in ihr Gefühl aufnimmt; die
Menſchen aber machen daraus ein Bekenntnis, das
andre verpflichten ſoll und ſich damit aufhebt. Da
iſt das Vaterland, die nationale Gemeinſchaft; ſie iſt
ein Mittel, die Macht des Einzelnen zuſammenzufaſſen,
um für die Menſchheit zu wirken; die Menſchen um-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |