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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Lubin: Perspektivisch liegende Figuren.
Scotus zur Geltung gekommen sind und aus der Diskonti-
nuität der Linien die Gleichheit perspektivisch liegender Ge-
bilde als notwendige Folgerung ableiten wollen (s. S. 195 f.). Wäh-
rend Bruno diesen Einwand dadurch zu lösen suchte, daß er
die Möglichkeit leugnete, vom Strahlpunkte nach allen Rich-
tungen hin gerade Linien zu ziehen, hilft sich Lubin damit,
daß er sich die Strahlen vom Strahlpunkte aus nach und nach
auseinanderweichend denkt, so daß, wenn man von der größe-
ren Figur zur kleineren übergeht, in dieser soviel Strahlen in eine
einzige Linie zusammenlaufen, als dem Verhältnis der Umfänge
(d. h. der in ihnen enthaltenen Zahl der Punkte) entspricht.
Wenn z. B. behauptet wird, daß die Diagonale eines Recht-
ecks der Seite gleich sein müsse, da sie beide gleich viel
Punkte enthielten, so sagt Lubin dagegen, daß die von Punkten
der Diagonale nach der Seite gezogenen Geraden (d. h. die
Perpendikel auf dieser) in den Punkten der Seite zusammen-
fielen; wenn z. B. die Diagonale achtmal so groß als die Seite
ist, so fallen je acht solche Perpendikel (aus acht benachbarten
Punkten der Diagonale) in ihren Fußpunkten auf der Seite
zu einem einzigen zusammen. Diese gewaltsame Vorstellung,
welche den geometrischen Grundbegriffen widerspricht, wird eben
nur möglich, wenn man sich mit Lubin in jene übersinnliche
Mathematik rettet, wo der sinnlich einzelne Punkt eine Mehr-
zahl intelligibler Punkte enthalten soll.

Ein weiterer Einwand der Mathematiker besteht darin, daß
sie sagen: wenn die Teile Punkte der Linie sind, so sind sie
nicht Grenzen derselben; die Linie, die aus Punkten besteht,
hat also keine Grenzen, ist demnach unendlich. Diese Wort-
spalterei weist Lubin zurück durch die Gleichsetzung der Be-
griffe Teil und Grenze; der Punkt kann ebensowohl Teil als
Grenze sein; der äußerste Punkt ist Teil und Grenze zugleich.
Der Einwurf endlich, daß über einer aus zwei Punkten beste-
henden Geraden sich kein gleichschenkliges Dreieck errichten
lasse, erledigt sich nach dem früheren von selbst.

Dies sind die Gedanken, welche Lubin den aristotelisch-
scholastischen Gründen gegen die Atomistik entgegenstellt.
Man muß es ihm als ein Verdienst anrechnen, daß er eine
solche systematische Widerlegung jener Gründe gegeben hat,
welche doch mit ihrem autoritativen Gewicht und ihrer schul-

Lubin: Perspektivisch liegende Figuren.
Scotus zur Geltung gekommen sind und aus der Diskonti-
nuität der Linien die Gleichheit perspektivisch liegender Ge-
bilde als notwendige Folgerung ableiten wollen (s. S. 195 f.). Wäh-
rend Bruno diesen Einwand dadurch zu lösen suchte, daß er
die Möglichkeit leugnete, vom Strahlpunkte nach allen Rich-
tungen hin gerade Linien zu ziehen, hilft sich Lubin damit,
daß er sich die Strahlen vom Strahlpunkte aus nach und nach
auseinanderweichend denkt, so daß, wenn man von der größe-
ren Figur zur kleineren übergeht, in dieser soviel Strahlen in eine
einzige Linie zusammenlaufen, als dem Verhältnis der Umfänge
(d. h. der in ihnen enthaltenen Zahl der Punkte) entspricht.
Wenn z. B. behauptet wird, daß die Diagonale eines Recht-
ecks der Seite gleich sein müsse, da sie beide gleich viel
Punkte enthielten, so sagt Lubin dagegen, daß die von Punkten
der Diagonale nach der Seite gezogenen Geraden (d. h. die
Perpendikel auf dieser) in den Punkten der Seite zusammen-
fielen; wenn z. B. die Diagonale achtmal so groß als die Seite
ist, so fallen je acht solche Perpendikel (aus acht benachbarten
Punkten der Diagonale) in ihren Fußpunkten auf der Seite
zu einem einzigen zusammen. Diese gewaltsame Vorstellung,
welche den geometrischen Grundbegriffen widerspricht, wird eben
nur möglich, wenn man sich mit Lubin in jene übersinnliche
Mathematik rettet, wo der sinnlich einzelne Punkt eine Mehr-
zahl intelligibler Punkte enthalten soll.

Ein weiterer Einwand der Mathematiker besteht darin, daß
sie sagen: wenn die Teile Punkte der Linie sind, so sind sie
nicht Grenzen derselben; die Linie, die aus Punkten besteht,
hat also keine Grenzen, ist demnach unendlich. Diese Wort-
spalterei weist Lubin zurück durch die Gleichsetzung der Be-
griffe Teil und Grenze; der Punkt kann ebensowohl Teil als
Grenze sein; der äußerste Punkt ist Teil und Grenze zugleich.
Der Einwurf endlich, daß über einer aus zwei Punkten beste-
henden Geraden sich kein gleichschenkliges Dreieck errichten
lasse, erledigt sich nach dem früheren von selbst.

Dies sind die Gedanken, welche Lubin den aristotelisch-
scholastischen Gründen gegen die Atomistik entgegenstellt.
Man muß es ihm als ein Verdienst anrechnen, daß er eine
solche systematische Widerlegung jener Gründe gegeben hat,
welche doch mit ihrem autoritativen Gewicht und ihrer schul-

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[409/0427] Lubin: Perspektivisch liegende Figuren. Scotus zur Geltung gekommen sind und aus der Diskonti- nuität der Linien die Gleichheit perspektivisch liegender Ge- bilde als notwendige Folgerung ableiten wollen (s. S. 195 f.). Wäh- rend Bruno diesen Einwand dadurch zu lösen suchte, daß er die Möglichkeit leugnete, vom Strahlpunkte nach allen Rich- tungen hin gerade Linien zu ziehen, hilft sich Lubin damit, daß er sich die Strahlen vom Strahlpunkte aus nach und nach auseinanderweichend denkt, so daß, wenn man von der größe- ren Figur zur kleineren übergeht, in dieser soviel Strahlen in eine einzige Linie zusammenlaufen, als dem Verhältnis der Umfänge (d. h. der in ihnen enthaltenen Zahl der Punkte) entspricht. Wenn z. B. behauptet wird, daß die Diagonale eines Recht- ecks der Seite gleich sein müsse, da sie beide gleich viel Punkte enthielten, so sagt Lubin dagegen, daß die von Punkten der Diagonale nach der Seite gezogenen Geraden (d. h. die Perpendikel auf dieser) in den Punkten der Seite zusammen- fielen; wenn z. B. die Diagonale achtmal so groß als die Seite ist, so fallen je acht solche Perpendikel (aus acht benachbarten Punkten der Diagonale) in ihren Fußpunkten auf der Seite zu einem einzigen zusammen. Diese gewaltsame Vorstellung, welche den geometrischen Grundbegriffen widerspricht, wird eben nur möglich, wenn man sich mit Lubin in jene übersinnliche Mathematik rettet, wo der sinnlich einzelne Punkt eine Mehr- zahl intelligibler Punkte enthalten soll. Ein weiterer Einwand der Mathematiker besteht darin, daß sie sagen: wenn die Teile Punkte der Linie sind, so sind sie nicht Grenzen derselben; die Linie, die aus Punkten besteht, hat also keine Grenzen, ist demnach unendlich. Diese Wort- spalterei weist Lubin zurück durch die Gleichsetzung der Be- griffe Teil und Grenze; der Punkt kann ebensowohl Teil als Grenze sein; der äußerste Punkt ist Teil und Grenze zugleich. Der Einwurf endlich, daß über einer aus zwei Punkten beste- henden Geraden sich kein gleichschenkliges Dreieck errichten lasse, erledigt sich nach dem früheren von selbst. Dies sind die Gedanken, welche Lubin den aristotelisch- scholastischen Gründen gegen die Atomistik entgegenstellt. Man muß es ihm als ein Verdienst anrechnen, daß er eine solche systematische Widerlegung jener Gründe gegeben hat, welche doch mit ihrem autoritativen Gewicht und ihrer schul-

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/427>, abgerufen am 22.11.2024.