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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Variabilität und Kausalität.
Denkmittel allein gestattet, einen Zustand als Bedingung eines
andren im Moment des Überganges zu erfassen und somit die
Kausalität aus der sinnlichen Erfahrung in einen wissenschaft-
lichen Begriff überzuführen. Erst die mechanische Natur-
wissenschaft hat die Variabilität als Begriff geschaffen, indem
sie die Bewegung mathematisch zu fixieren gestattete. Vorher
war die Kausalität angewiesen, sich auf die Anschauung zu
berufen, und deshalb stellt auch die antike Atomistik nur eine
künstliche Vermittelung zwischen dem starren eleatischen Sein
des Begriffs und der nicht zu leugnenden anschaulichen Ver-
änderung vor, ohne doch die Antinomie der Veränderung be-
grifflich bewältigen zu können. Aber ehe wir zu der Ent-
deckung des Denkmittels der Variabilität gelangen, finden wir
eine vorbereitende Stufe dazu in dem Gedanken eines inneren
Entwickelungsprinzips der Dinge. Diese bietet der Neu-
platonismus.

Er hat dem Denkmittel der Variabilität allerdings im meta-
physischen Interesse und zunächst nach einer unhaltbaren
Richtung hin vorgearbeitet, indem er ein immaterielles, ewiges
Prinzip annahm, dessen Wesen Aktualität der Bewegung, d. h. ein
Prinzip der Veränderung selbst ist. Dieses Prinzip ist die
Selbstbewegung des Denkens; indem das Denken als Weltseele
sich entfaltet und die Materie ergreift, verleiht es den Dingen
in ihrer Veränderlichkeit Teil an der Realität. Die Entfaltung
des Denkens zur Welt im neuplatonischen Sinne enthält aller-
dings noch nichts von jener Bestimmung der Einzeldinge,
deren die Naturwissenschaft bedarf und welche allein durch
die Kausalität zu geben ist. Aber sie enthält den Gedanken
der inneren Tendenz zur Veränderung, welcher die
Voraussetzung dafür ist, kausales Geschehen als möglich zu be-
greifen. Noch bleibt es völlig unsicher, wie im einzelnen der
Erfahrung die Veränderung sich bestimmen lasse, wie die Rich-
tung der Entwickelung zum Vorteil der Naturerkenntnis zu
denken sei. Es genügt zunächst, daß nur überhaupt jeder
gegebene Zustand als eine reale Bedingung folgender Zustände

des Denkmittels der Variabilität ein, um in der Folge an der historischen
Thatsache der Entstehung der Naturwissenschaft, als der Wissenschaft von der
Empfindung, seine Wirkung nachzuweisen.
Laßwitz. 18

Variabilität und Kausalität.
Denkmittel allein gestattet, einen Zustand als Bedingung eines
andren im Moment des Überganges zu erfassen und somit die
Kausalität aus der sinnlichen Erfahrung in einen wissenschaft-
lichen Begriff überzuführen. Erst die mechanische Natur-
wissenschaft hat die Variabilität als Begriff geschaffen, indem
sie die Bewegung mathematisch zu fixieren gestattete. Vorher
war die Kausalität angewiesen, sich auf die Anschauung zu
berufen, und deshalb stellt auch die antike Atomistik nur eine
künstliche Vermittelung zwischen dem starren eleatischen Sein
des Begriffs und der nicht zu leugnenden anschaulichen Ver-
änderung vor, ohne doch die Antinomie der Veränderung be-
grifflich bewältigen zu können. Aber ehe wir zu der Ent-
deckung des Denkmittels der Variabilität gelangen, finden wir
eine vorbereitende Stufe dazu in dem Gedanken eines inneren
Entwickelungsprinzips der Dinge. Diese bietet der Neu-
platonismus.

Er hat dem Denkmittel der Variabilität allerdings im meta-
physischen Interesse und zunächst nach einer unhaltbaren
Richtung hin vorgearbeitet, indem er ein immaterielles, ewiges
Prinzip annahm, dessen Wesen Aktualität der Bewegung, d. h. ein
Prinzip der Veränderung selbst ist. Dieses Prinzip ist die
Selbstbewegung des Denkens; indem das Denken als Weltseele
sich entfaltet und die Materie ergreift, verleiht es den Dingen
in ihrer Veränderlichkeit Teil an der Realität. Die Entfaltung
des Denkens zur Welt im neuplatonischen Sinne enthält aller-
dings noch nichts von jener Bestimmung der Einzeldinge,
deren die Naturwissenschaft bedarf und welche allein durch
die Kausalität zu geben ist. Aber sie enthält den Gedanken
der inneren Tendenz zur Veränderung, welcher die
Voraussetzung dafür ist, kausales Geschehen als möglich zu be-
greifen. Noch bleibt es völlig unsicher, wie im einzelnen der
Erfahrung die Veränderung sich bestimmen lasse, wie die Rich-
tung der Entwickelung zum Vorteil der Naturerkenntnis zu
denken sei. Es genügt zunächst, daß nur überhaupt jeder
gegebene Zustand als eine reale Bedingung folgender Zustände

des Denkmittels der Variabilität ein, um in der Folge an der historischen
Thatsache der Entstehung der Naturwissenschaft, als der Wissenschaft von der
Empfindung, seine Wirkung nachzuweisen.
Laßwitz. 18
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[273/0291] Variabilität und Kausalität. Denkmittel allein gestattet, einen Zustand als Bedingung eines andren im Moment des Überganges zu erfassen und somit die Kausalität aus der sinnlichen Erfahrung in einen wissenschaft- lichen Begriff überzuführen. Erst die mechanische Natur- wissenschaft hat die Variabilität als Begriff geschaffen, indem sie die Bewegung mathematisch zu fixieren gestattete. Vorher war die Kausalität angewiesen, sich auf die Anschauung zu berufen, und deshalb stellt auch die antike Atomistik nur eine künstliche Vermittelung zwischen dem starren eleatischen Sein des Begriffs und der nicht zu leugnenden anschaulichen Ver- änderung vor, ohne doch die Antinomie der Veränderung be- grifflich bewältigen zu können. Aber ehe wir zu der Ent- deckung des Denkmittels der Variabilität gelangen, finden wir eine vorbereitende Stufe dazu in dem Gedanken eines inneren Entwickelungsprinzips der Dinge. Diese bietet der Neu- platonismus. Er hat dem Denkmittel der Variabilität allerdings im meta- physischen Interesse und zunächst nach einer unhaltbaren Richtung hin vorgearbeitet, indem er ein immaterielles, ewiges Prinzip annahm, dessen Wesen Aktualität der Bewegung, d. h. ein Prinzip der Veränderung selbst ist. Dieses Prinzip ist die Selbstbewegung des Denkens; indem das Denken als Weltseele sich entfaltet und die Materie ergreift, verleiht es den Dingen in ihrer Veränderlichkeit Teil an der Realität. Die Entfaltung des Denkens zur Welt im neuplatonischen Sinne enthält aller- dings noch nichts von jener Bestimmung der Einzeldinge, deren die Naturwissenschaft bedarf und welche allein durch die Kausalität zu geben ist. Aber sie enthält den Gedanken der inneren Tendenz zur Veränderung, welcher die Voraussetzung dafür ist, kausales Geschehen als möglich zu be- greifen. Noch bleibt es völlig unsicher, wie im einzelnen der Erfahrung die Veränderung sich bestimmen lasse, wie die Rich- tung der Entwickelung zum Vorteil der Naturerkenntnis zu denken sei. Es genügt zunächst, daß nur überhaupt jeder gegebene Zustand als eine reale Bedingung folgender Zustände 1 1 des Denkmittels der Variabilität ein, um in der Folge an der historischen Thatsache der Entstehung der Naturwissenschaft, als der Wissenschaft von der Empfindung, seine Wirkung nachzuweisen. Laßwitz. 18

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/291>, abgerufen am 28.09.2024.