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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Das Indivisible und das Infinitesimale.
einem neuen Denkmittel sich erst in der Folge näher erör-
tern läßt.

Das Indivisible der Scholastik und das Infinitesimale haben
beide gemeinsam, daß sie zur Erklärung der Kontinuität, zur
Erzeugung der Einheit quantitativer Teile erdacht sind. In ihrem
Gebrauche innerhalb der Mathematik sind sie daher beide das-
jenige, was die Scholastik synkategorematische Begriffe nennt, d. h.
ihr Inhalt besitzt nur potenziellen Seinswert. Sie sind schließlich
beide nicht extensive endliche Größe. Trotz dieser Ver-
wandschaft bleibt das Indivisible eine unfruchtbare Abstraktion,
das Infinitesimale hat neue Wissenschaften geschaffen. Das
Indivisible war nur das Resultat des überall angewendeten
Denkprozesses der Substanzialität, der Zerlegung der Dinge
in Bestimmendes und Bestimmtes; unter ihm zerfiel das Konti-
nuum in Punkte und Linien. Das Infinitesimale dagegen ist
der Ausdruck einer neuen Art des Denkens, einer neuen Ver-
fahrungsweise, Gegebenes zu erfassen, nämlich in synthetischer
Hinsicht; die Dinge werden als werdend gedacht und in diesem
genetischen Sinne begrifflich fixiert, ohne daß der Gattungs-
begriff des Kontinuums aufgehoben wird; das Infinitesimale ist
keine Größe in gewöhnlichem Sinne, d. h. keine extensive
Größe, sondern eine werdende, zur Extension strebende, die
man unendlich klein genannt hat. Bevor die scholastische
Zergliederung des Kontinuitätsbegriffs dem neuen Denkmittel
zu gute kommen konnte, mußte erst von andrer Seite das
Bedürfnis neuer Erkenntnis sich bemerklich machen.

3. Das Vacuum in der Scholastik.

Im Zusammenhange mit dem Problem der Kontinuität
steht die Frage, ob ein leerer Raum möglich sei. Für die
gesammte Scholastik ist im Anschluß an Aristoteles der
Raum an den Körper geknüpft. Räumlichkeit, und zwar in
dem Sinne, daß damit sowohl die räumliche Ausdehnung eines
Körpers als auch eine bestimmte Lage desselben im Raume
(Örtlichkeit) bezeichnet ist, können wir demnach nur an den
Körpern kennen lernen. Sie bildet eine bestimmte Kategorie
und ist als solche von der Qualität und der Substanz zu unter-
scheiden. Insofern gehört sie zur Konstitution des Körpers

Das Indivisible und das Infinitesimale.
einem neuen Denkmittel sich erst in der Folge näher erör-
tern läßt.

Das Indivisible der Scholastik und das Infinitesimale haben
beide gemeinsam, daß sie zur Erklärung der Kontinuität, zur
Erzeugung der Einheit quantitativer Teile erdacht sind. In ihrem
Gebrauche innerhalb der Mathematik sind sie daher beide das-
jenige, was die Scholastik synkategorematische Begriffe nennt, d. h.
ihr Inhalt besitzt nur potenziellen Seinswert. Sie sind schließlich
beide nicht extensive endliche Größe. Trotz dieser Ver-
wandschaft bleibt das Indivisible eine unfruchtbare Abstraktion,
das Infinitesimale hat neue Wissenschaften geschaffen. Das
Indivisible war nur das Resultat des überall angewendeten
Denkprozesses der Substanzialität, der Zerlegung der Dinge
in Bestimmendes und Bestimmtes; unter ihm zerfiel das Konti-
nuum in Punkte und Linien. Das Infinitesimale dagegen ist
der Ausdruck einer neuen Art des Denkens, einer neuen Ver-
fahrungsweise, Gegebenes zu erfassen, nämlich in synthetischer
Hinsicht; die Dinge werden als werdend gedacht und in diesem
genetischen Sinne begrifflich fixiert, ohne daß der Gattungs-
begriff des Kontinuums aufgehoben wird; das Infinitesimale ist
keine Größe in gewöhnlichem Sinne, d. h. keine extensive
Größe, sondern eine werdende, zur Extension strebende, die
man unendlich klein genannt hat. Bevor die scholastische
Zergliederung des Kontinuitätsbegriffs dem neuen Denkmittel
zu gute kommen konnte, mußte erst von andrer Seite das
Bedürfnis neuer Erkenntnis sich bemerklich machen.

3. Das Vacuum in der Scholastik.

Im Zusammenhange mit dem Problem der Kontinuität
steht die Frage, ob ein leerer Raum möglich sei. Für die
gesammte Scholastik ist im Anschluß an Aristoteles der
Raum an den Körper geknüpft. Räumlichkeit, und zwar in
dem Sinne, daß damit sowohl die räumliche Ausdehnung eines
Körpers als auch eine bestimmte Lage desselben im Raume
(Örtlichkeit) bezeichnet ist, können wir demnach nur an den
Körpern kennen lernen. Sie bildet eine bestimmte Kategorie
und ist als solche von der Qualität und der Substanz zu unter-
scheiden. Insofern gehört sie zur Konstitution des Körpers

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[201/0219] Das Indivisible und das Infinitesimale. einem neuen Denkmittel sich erst in der Folge näher erör- tern läßt. Das Indivisible der Scholastik und das Infinitesimale haben beide gemeinsam, daß sie zur Erklärung der Kontinuität, zur Erzeugung der Einheit quantitativer Teile erdacht sind. In ihrem Gebrauche innerhalb der Mathematik sind sie daher beide das- jenige, was die Scholastik synkategorematische Begriffe nennt, d. h. ihr Inhalt besitzt nur potenziellen Seinswert. Sie sind schließlich beide nicht extensive endliche Größe. Trotz dieser Ver- wandschaft bleibt das Indivisible eine unfruchtbare Abstraktion, das Infinitesimale hat neue Wissenschaften geschaffen. Das Indivisible war nur das Resultat des überall angewendeten Denkprozesses der Substanzialität, der Zerlegung der Dinge in Bestimmendes und Bestimmtes; unter ihm zerfiel das Konti- nuum in Punkte und Linien. Das Infinitesimale dagegen ist der Ausdruck einer neuen Art des Denkens, einer neuen Ver- fahrungsweise, Gegebenes zu erfassen, nämlich in synthetischer Hinsicht; die Dinge werden als werdend gedacht und in diesem genetischen Sinne begrifflich fixiert, ohne daß der Gattungs- begriff des Kontinuums aufgehoben wird; das Infinitesimale ist keine Größe in gewöhnlichem Sinne, d. h. keine extensive Größe, sondern eine werdende, zur Extension strebende, die man unendlich klein genannt hat. Bevor die scholastische Zergliederung des Kontinuitätsbegriffs dem neuen Denkmittel zu gute kommen konnte, mußte erst von andrer Seite das Bedürfnis neuer Erkenntnis sich bemerklich machen. 3. Das Vacuum in der Scholastik. Im Zusammenhange mit dem Problem der Kontinuität steht die Frage, ob ein leerer Raum möglich sei. Für die gesammte Scholastik ist im Anschluß an Aristoteles der Raum an den Körper geknüpft. Räumlichkeit, und zwar in dem Sinne, daß damit sowohl die räumliche Ausdehnung eines Körpers als auch eine bestimmte Lage desselben im Raume (Örtlichkeit) bezeichnet ist, können wir demnach nur an den Körpern kennen lernen. Sie bildet eine bestimmte Kategorie und ist als solche von der Qualität und der Substanz zu unter- scheiden. Insofern gehört sie zur Konstitution des Körpers

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/219>, abgerufen am 27.11.2024.