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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Scholastik: Synkategorematisches Unendlich.

Unendlich viele Teile kann es allerdings actu nicht geben,
wohl aber potentia. Die Teilung ins Unendliche kann zwar
nicht vollendet werden, aber sie kann beliebig fortgesetzt ge-
dacht werden. Das Unendliche ist nicht ein fertiger, ab-
geschlossener Begriff (terminus categorematicus), sondern es ist
die Modifikation eines andren Begriffs (terminus syncategore-
maticus). Daher existiert die Unendlichkeit der Teile nur
synkategorematisch, d. h. in dem endlosen Progreß, welcher
gestattet, soviel Teile man auch genommen hat, immer noch
neue hinzuzunehmen. Es gibt demnach keinen ersten Teil,
auf welchen man bei der Teilung kommen könnte; denn das
eben ist der allein zulässige Sinn des Unendlichen, daß man
an kein Ende der Teilung, an keinen ersten Teil gelangt.1
Wenn man sagt, daß Gott doch die aktuell unendlichen Teile
erkennen müsse, so ist das eine Erschleichung. Denn wenn
Gott das Kontinuum als actu aus unendlich vielen Indivisiblen
bestehend erkennen würde, so wäre es eben kein Kontinuum
mehr. Setzt man freilich voraus, daß das Kontinuum so be-
beschaffen sei, so würde auch Gott es so erkennen, aber man
hat dann vorausgesetzt, was man erst beweisen soll, und was
man nicht voraussetzen darf, weil es einen Widerspruch in sich
enthält. Gott kann die actu unendlichen Indivisiblen im Konti-
nuum, dessen Begriff sie aufheben, nicht erkennen, denn sonst
wäre seine Erkenntnis falsch. Gott erkennt vielmehr die Un-
endlichkeit der Teile, wie sie in potentia sind; dadurch werden
sie aber nicht actu, denn er erkennt sie zwar distincte, aber
keineswegs als distinctas partes.

Die Berufung auf Aristoteles, betreffend die Analogie
von Punkt und Linie mit Einheit und Zahl, sei unzulässig,
denn das Verhältnis finde bei beiden nicht in demselben Sinne
statt; sonst müßte die Einheit in der Zahl ebenso eine Position
haben, wie der Punkt in der Linie eine bestimmte Lage

1 So sagt z. B. R. Baco (Opus tertium c. 39. p. 134.): Et ideo concen-
dendum est, quod divisio in A puncto non repugnat divisioni in aliquo puncto
dato in praesenti et in actu, sed in aliquo dando; nec possunt omnia puncta
divisionis dari simul, sed successive dantur in infinitum. Quia semper post
divisionem in quocunque puncto restat divisio illarum partium quae sunt
divisae, quia quantae sunt. Vgl. jedoch dazu Scotus, Lib. II Sentent. Dist. II.
Quaest. IX. Op. Tom. VI. p. 250 ff.
Laßwitz. 13
Scholastik: Synkategorematisches Unendlich.

Unendlich viele Teile kann es allerdings actu nicht geben,
wohl aber potentia. Die Teilung ins Unendliche kann zwar
nicht vollendet werden, aber sie kann beliebig fortgesetzt ge-
dacht werden. Das Unendliche ist nicht ein fertiger, ab-
geschlossener Begriff (terminus categorematicus), sondern es ist
die Modifikation eines andren Begriffs (terminus syncategore-
maticus). Daher existiert die Unendlichkeit der Teile nur
synkategorematisch, d. h. in dem endlosen Progreß, welcher
gestattet, soviel Teile man auch genommen hat, immer noch
neue hinzuzunehmen. Es gibt demnach keinen ersten Teil,
auf welchen man bei der Teilung kommen könnte; denn das
eben ist der allein zulässige Sinn des Unendlichen, daß man
an kein Ende der Teilung, an keinen ersten Teil gelangt.1
Wenn man sagt, daß Gott doch die aktuell unendlichen Teile
erkennen müsse, so ist das eine Erschleichung. Denn wenn
Gott das Kontinuum als actu aus unendlich vielen Indivisiblen
bestehend erkennen würde, so wäre es eben kein Kontinuum
mehr. Setzt man freilich voraus, daß das Kontinuum so be-
beschaffen sei, so würde auch Gott es so erkennen, aber man
hat dann vorausgesetzt, was man erst beweisen soll, und was
man nicht voraussetzen darf, weil es einen Widerspruch in sich
enthält. Gott kann die actu unendlichen Indivisiblen im Konti-
nuum, dessen Begriff sie aufheben, nicht erkennen, denn sonst
wäre seine Erkenntnis falsch. Gott erkennt vielmehr die Un-
endlichkeit der Teile, wie sie in potentia sind; dadurch werden
sie aber nicht actu, denn er erkennt sie zwar distincte, aber
keineswegs als distinctas partes.

Die Berufung auf Aristoteles, betreffend die Analogie
von Punkt und Linie mit Einheit und Zahl, sei unzulässig,
denn das Verhältnis finde bei beiden nicht in demselben Sinne
statt; sonst müßte die Einheit in der Zahl ebenso eine Position
haben, wie der Punkt in der Linie eine bestimmte Lage

1 So sagt z. B. R. Baco (Opus tertium c. 39. p. 134.): Et ideo concen-
dendum est, quod divisio in A puncto non repugnat divisioni in aliquo puncto
dato in praesenti et in actu, sed in aliquo dando; nec possunt omnia puncta
divisionis dari simul, sed successive dantur in infinitum. Quia semper post
divisionem in quocunque puncto restat divisio illarum partium quae sunt
divisae, quia quantae sunt. Vgl. jedoch dazu Scotus, Lib. II Sentent. Dist. II.
Quaest. IX. Op. Tom. VI. p. 250 ff.
Laßwitz. 13
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[193/0211] Scholastik: Synkategorematisches Unendlich. Unendlich viele Teile kann es allerdings actu nicht geben, wohl aber potentia. Die Teilung ins Unendliche kann zwar nicht vollendet werden, aber sie kann beliebig fortgesetzt ge- dacht werden. Das Unendliche ist nicht ein fertiger, ab- geschlossener Begriff (terminus categorematicus), sondern es ist die Modifikation eines andren Begriffs (terminus syncategore- maticus). Daher existiert die Unendlichkeit der Teile nur synkategorematisch, d. h. in dem endlosen Progreß, welcher gestattet, soviel Teile man auch genommen hat, immer noch neue hinzuzunehmen. Es gibt demnach keinen ersten Teil, auf welchen man bei der Teilung kommen könnte; denn das eben ist der allein zulässige Sinn des Unendlichen, daß man an kein Ende der Teilung, an keinen ersten Teil gelangt. 1 Wenn man sagt, daß Gott doch die aktuell unendlichen Teile erkennen müsse, so ist das eine Erschleichung. Denn wenn Gott das Kontinuum als actu aus unendlich vielen Indivisiblen bestehend erkennen würde, so wäre es eben kein Kontinuum mehr. Setzt man freilich voraus, daß das Kontinuum so be- beschaffen sei, so würde auch Gott es so erkennen, aber man hat dann vorausgesetzt, was man erst beweisen soll, und was man nicht voraussetzen darf, weil es einen Widerspruch in sich enthält. Gott kann die actu unendlichen Indivisiblen im Konti- nuum, dessen Begriff sie aufheben, nicht erkennen, denn sonst wäre seine Erkenntnis falsch. Gott erkennt vielmehr die Un- endlichkeit der Teile, wie sie in potentia sind; dadurch werden sie aber nicht actu, denn er erkennt sie zwar distincte, aber keineswegs als distinctas partes. Die Berufung auf Aristoteles, betreffend die Analogie von Punkt und Linie mit Einheit und Zahl, sei unzulässig, denn das Verhältnis finde bei beiden nicht in demselben Sinne statt; sonst müßte die Einheit in der Zahl ebenso eine Position haben, wie der Punkt in der Linie eine bestimmte Lage 1 So sagt z. B. R. Baco (Opus tertium c. 39. p. 134.): Et ideo concen- dendum est, quod divisio in A puncto non repugnat divisioni in aliquo puncto dato in praesenti et in actu, sed in aliquo dando; nec possunt omnia puncta divisionis dari simul, sed successive dantur in infinitum. Quia semper post divisionem in quocunque puncto restat divisio illarum partium quae sunt divisae, quia quantae sunt. Vgl. jedoch dazu Scotus, Lib. II Sentent. Dist. II. Quaest. IX. Op. Tom. VI. p. 250 ff. Laßwitz. 13

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/211>, abgerufen am 28.11.2024.