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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Indische Mathematik.
niemals vollzogen war, und doch die Arithmetik blühte. Eben-
so abgeneigt der Schärfe hellenischer Begriffsanalyse wie hoch-
begabt für die unmittelbare Anschauung und die intuitive Er-
fassung des Gegebenen, haben die Inder durch ihr eminentes
Zahlentalent eine eigenartige Mathematik entwickelt, welche
die griechische Geometrie zu ergänzen berufen war. Wie die
Griechen die geometrische, so sind die Inder die arithmetische
Nation, so daß man in den überlieferten Schriften geradezu
die Bestandteile nach ihrem griechischen oder indischen Ur-
sprunge unterscheiden kann, je nachdem die Betrachtung geo-
metrisch oder arithmetisch geführt ist.1

Obgleich man als sicher annehmen darf, daß gegenseitige
Beeinflussungen der griechischen und indischen Mathematik
Jahrhunderte hindurch bestanden haben, so hat sich doch
zweifellos die indische Mathematik, insofern sie Rechenkunst
ist, durchaus selbständig entwickelt, ihrem Charakter und
ihren Resultaten nach von der griechischen verschieden. Die
wissenschaftliche Algebra allerdings bei Diophant ist griechisch,
aber die Art und Weise, in welcher wir heute die Anwendung
der Zahlenrechnung auf Geometrie behandeln, ist indischen
Ursprungs.2

Bekanntlich ist die Null, durch welche das System des
Stellenwerts der Ziffern ermöglicht wurde, eine indische Er-
findung; bei Brahmagupta finden wir die Einführung negativer
Glieder bei den quadratischen Gleichungen, die Diophant noch
fremd war; Bhaskara kennt die Doppelsinnigkeit der Wurzeln,
vor allem aber vollzogen die Inder die Emanzipation von den
rationalen Zahlen.3 Sätze wie
[Formel 1] haben bei ihnen rein algebraischen Sinn bekommen, das Irra-
tionale steht mit dem Rationalen auf gleicher Stufe, es ist zur

1 Cantor, a. a. O. I. S. 622, 623, 626.
2 Hankel, a. a. O. S. 203 ff.
3 "Wenn sich Diophant", sagt Hankel a. a. O. S. 194, "bereits von jeder
geometrischen Interpretation seiner Regeln zur Verknüpfung zusammengesetzter
Ausdrücke freigemacht hatte, so waren doch seine Operationen ausdrücklich
auf Zahlen, d. h. rationale Größen beschränkt." Diese Beschränkung kennt
der Inder nicht.

Indische Mathematik.
niemals vollzogen war, und doch die Arithmetik blühte. Eben-
so abgeneigt der Schärfe hellenischer Begriffsanalyse wie hoch-
begabt für die unmittelbare Anschauung und die intuitive Er-
fassung des Gegebenen, haben die Inder durch ihr eminentes
Zahlentalent eine eigenartige Mathematik entwickelt, welche
die griechische Geometrie zu ergänzen berufen war. Wie die
Griechen die geometrische, so sind die Inder die arithmetische
Nation, so daß man in den überlieferten Schriften geradezu
die Bestandteile nach ihrem griechischen oder indischen Ur-
sprunge unterscheiden kann, je nachdem die Betrachtung geo-
metrisch oder arithmetisch geführt ist.1

Obgleich man als sicher annehmen darf, daß gegenseitige
Beeinflussungen der griechischen und indischen Mathematik
Jahrhunderte hindurch bestanden haben, so hat sich doch
zweifellos die indische Mathematik, insofern sie Rechenkunst
ist, durchaus selbständig entwickelt, ihrem Charakter und
ihren Resultaten nach von der griechischen verschieden. Die
wissenschaftliche Algebra allerdings bei Diophant ist griechisch,
aber die Art und Weise, in welcher wir heute die Anwendung
der Zahlenrechnung auf Geometrie behandeln, ist indischen
Ursprungs.2

Bekanntlich ist die Null, durch welche das System des
Stellenwerts der Ziffern ermöglicht wurde, eine indische Er-
findung; bei Brahmagupta finden wir die Einführung negativer
Glieder bei den quadratischen Gleichungen, die Diophant noch
fremd war; Bhaskara kennt die Doppelsinnigkeit der Wurzeln,
vor allem aber vollzogen die Inder die Emanzipation von den
rationalen Zahlen.3 Sätze wie
[Formel 1] haben bei ihnen rein algebraischen Sinn bekommen, das Irra-
tionale steht mit dem Rationalen auf gleicher Stufe, es ist zur

1 Cantor, a. a. O. I. S. 622, 623, 626.
2 Hankel, a. a. O. S. 203 ff.
3 „Wenn sich Diophant‟, sagt Hankel a. a. O. S. 194, „bereits von jeder
geometrischen Interpretation seiner Regeln zur Verknüpfung zusammengesetzter
Ausdrücke freigemacht hatte, so waren doch seine Operationen ausdrücklich
auf Zahlen, d. h. rationale Größen beschränkt.‟ Diese Beschränkung kennt
der Inder nicht.
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[184/0202] Indische Mathematik. niemals vollzogen war, und doch die Arithmetik blühte. Eben- so abgeneigt der Schärfe hellenischer Begriffsanalyse wie hoch- begabt für die unmittelbare Anschauung und die intuitive Er- fassung des Gegebenen, haben die Inder durch ihr eminentes Zahlentalent eine eigenartige Mathematik entwickelt, welche die griechische Geometrie zu ergänzen berufen war. Wie die Griechen die geometrische, so sind die Inder die arithmetische Nation, so daß man in den überlieferten Schriften geradezu die Bestandteile nach ihrem griechischen oder indischen Ur- sprunge unterscheiden kann, je nachdem die Betrachtung geo- metrisch oder arithmetisch geführt ist. 1 Obgleich man als sicher annehmen darf, daß gegenseitige Beeinflussungen der griechischen und indischen Mathematik Jahrhunderte hindurch bestanden haben, so hat sich doch zweifellos die indische Mathematik, insofern sie Rechenkunst ist, durchaus selbständig entwickelt, ihrem Charakter und ihren Resultaten nach von der griechischen verschieden. Die wissenschaftliche Algebra allerdings bei Diophant ist griechisch, aber die Art und Weise, in welcher wir heute die Anwendung der Zahlenrechnung auf Geometrie behandeln, ist indischen Ursprungs. 2 Bekanntlich ist die Null, durch welche das System des Stellenwerts der Ziffern ermöglicht wurde, eine indische Er- findung; bei Brahmagupta finden wir die Einführung negativer Glieder bei den quadratischen Gleichungen, die Diophant noch fremd war; Bhaskara kennt die Doppelsinnigkeit der Wurzeln, vor allem aber vollzogen die Inder die Emanzipation von den rationalen Zahlen. 3 Sätze wie [FORMEL] haben bei ihnen rein algebraischen Sinn bekommen, das Irra- tionale steht mit dem Rationalen auf gleicher Stufe, es ist zur 1 Cantor, a. a. O. I. S. 622, 623, 626. 2 Hankel, a. a. O. S. 203 ff. 3 „Wenn sich Diophant‟, sagt Hankel a. a. O. S. 194, „bereits von jeder geometrischen Interpretation seiner Regeln zur Verknüpfung zusammengesetzter Ausdrücke freigemacht hatte, so waren doch seine Operationen ausdrücklich auf Zahlen, d. h. rationale Größen beschränkt.‟ Diese Beschränkung kennt der Inder nicht.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/202>, abgerufen am 29.11.2024.