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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Aristoteles gg. d. Atom.: Seele.
sein könnte; sonst würden in ein und demselben Raume zwei
Körper sich vorfinden.1 Sie ist unkörperlicher Natur, daher
auch nicht Bewegung. Denn als Bewegung müßte sie
im Raume sein.2 Allerdings hat sie ihren Sitz in einer Art
ätherischen Stoffes, der Lebenswärme3, mit welcher sie bei der
Erzeugung von einem Körper in den andren übergeht, aber
sie ist doch nur die Form des Körpers, wobei immerhin, wie
die Form nicht ohne Materie, so die Seele nicht ohne Körper
sein kann.

Man darf überhaupt nicht mit der Atomistik das Geistige aus
dem Körperlichen ableiten, sondern gerade das Leben der Seele
ist das Erste, der Zweck, und das Körperliche nur das Mittel. Beide
freilich gehören zusammen, der Körper als die zu bewegende
Materie, die Seele als der bewegende Zweck, die Form. Und
so ist denn die Seele die Entelechie, und zwar die erste4
Entelechie des natürlichen Körpers, d. h. die bewegende Kraft,
durch welche der Körper Wirklichkeit des Lebens empfängt.5

6. Beziehung der aristotelischen Einwände zur Physik und
zum Kontinuitätsproblem.

Von den Gründen, die Aristoteles gegen die Atomistik
anführt, ist derjenige Teil, welcher die Annahme der Atome
als unbrauchbar und unnötig erweisen soll, meist physika-
lischen Charakters. Er richtet sich auf den Nachweis, daß
durch die Atomistik nicht erklärt werde die Schwere, die Ver-
dichtung und Zunahme der Körper, die Verschiedenheit der
Grundstoffe und ihre Verwandlung, das Entstehen und die
qualitative Änderung der Körper, die Mischung (chemische
Verbindung) und die Erscheinungen des Bewußtseins. Ihnen
gegenüber stehen die positiven Erklärungen des Philosophen
aus dem Prinzip des Übergangs der Materie von der Potenzia-

1 De anima I, 5. 409 b 2.
2 De anima I, 3. 406 a. 15.
3 # II, 3. 736 b 27. Über die Beziehung zwischen Lebens-
wärme und Äther vgl. Zeller, a. a. O. II, 2 S. 483 u. Meyer, Aristoteles'
Tierkunde
, S. 410 f.
4 Die "erste" Entelechie, weil sie nicht bloß in der Wirksamkeit besteht,
sondern auch z. B. im Schlafe vorhanden ist. Vgl. über "erste" und "zweite"
Entelechie S. 89 A. 1.
5 De anima II, 1.
9*

Aristoteles gg. d. Atom.: Seele.
sein könnte; sonst würden in ein und demselben Raume zwei
Körper sich vorfinden.1 Sie ist unkörperlicher Natur, daher
auch nicht Bewegung. Denn als Bewegung müßte sie
im Raume sein.2 Allerdings hat sie ihren Sitz in einer Art
ätherischen Stoffes, der Lebenswärme3, mit welcher sie bei der
Erzeugung von einem Körper in den andren übergeht, aber
sie ist doch nur die Form des Körpers, wobei immerhin, wie
die Form nicht ohne Materie, so die Seele nicht ohne Körper
sein kann.

Man darf überhaupt nicht mit der Atomistik das Geistige aus
dem Körperlichen ableiten, sondern gerade das Leben der Seele
ist das Erste, der Zweck, und das Körperliche nur das Mittel. Beide
freilich gehören zusammen, der Körper als die zu bewegende
Materie, die Seele als der bewegende Zweck, die Form. Und
so ist denn die Seele die Entelechie, und zwar die erste4
Entelechie des natürlichen Körpers, d. h. die bewegende Kraft,
durch welche der Körper Wirklichkeit des Lebens empfängt.5

6. Beziehung der aristotelischen Einwände zur Physik und
zum Kontinuitätsproblem.

Von den Gründen, die Aristoteles gegen die Atomistik
anführt, ist derjenige Teil, welcher die Annahme der Atome
als unbrauchbar und unnötig erweisen soll, meist physika-
lischen Charakters. Er richtet sich auf den Nachweis, daß
durch die Atomistik nicht erklärt werde die Schwere, die Ver-
dichtung und Zunahme der Körper, die Verschiedenheit der
Grundstoffe und ihre Verwandlung, das Entstehen und die
qualitative Änderung der Körper, die Mischung (chemische
Verbindung) und die Erscheinungen des Bewußtseins. Ihnen
gegenüber stehen die positiven Erklärungen des Philosophen
aus dem Prinzip des Übergangs der Materie von der Potenzia-

1 De anima I, 5. 409 b 2.
2 De anima I, 3. 406 a. 15.
3 # II, 3. 736 b 27. Über die Beziehung zwischen Lebens-
wärme und Äther vgl. Zeller, a. a. O. II, 2 S. 483 u. Meyer, Aristoteles’
Tierkunde
, S. 410 f.
4 Die „erste‟ Entelechie, weil sie nicht bloß in der Wirksamkeit besteht,
sondern auch z. B. im Schlafe vorhanden ist. Vgl. über „erste‟ und „zweite‟
Entelechie S. 89 A. 1.
5 De anima II, 1.
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[131/0149] Aristoteles gg. d. Atom.: Seele. sein könnte; sonst würden in ein und demselben Raume zwei Körper sich vorfinden. 1 Sie ist unkörperlicher Natur, daher auch nicht Bewegung. Denn als Bewegung müßte sie im Raume sein. 2 Allerdings hat sie ihren Sitz in einer Art ätherischen Stoffes, der Lebenswärme 3, mit welcher sie bei der Erzeugung von einem Körper in den andren übergeht, aber sie ist doch nur die Form des Körpers, wobei immerhin, wie die Form nicht ohne Materie, so die Seele nicht ohne Körper sein kann. Man darf überhaupt nicht mit der Atomistik das Geistige aus dem Körperlichen ableiten, sondern gerade das Leben der Seele ist das Erste, der Zweck, und das Körperliche nur das Mittel. Beide freilich gehören zusammen, der Körper als die zu bewegende Materie, die Seele als der bewegende Zweck, die Form. Und so ist denn die Seele die Entelechie, und zwar die erste 4 Entelechie des natürlichen Körpers, d. h. die bewegende Kraft, durch welche der Körper Wirklichkeit des Lebens empfängt. 5 6. Beziehung der aristotelischen Einwände zur Physik und zum Kontinuitätsproblem. Von den Gründen, die Aristoteles gegen die Atomistik anführt, ist derjenige Teil, welcher die Annahme der Atome als unbrauchbar und unnötig erweisen soll, meist physika- lischen Charakters. Er richtet sich auf den Nachweis, daß durch die Atomistik nicht erklärt werde die Schwere, die Ver- dichtung und Zunahme der Körper, die Verschiedenheit der Grundstoffe und ihre Verwandlung, das Entstehen und die qualitative Änderung der Körper, die Mischung (chemische Verbindung) und die Erscheinungen des Bewußtseins. Ihnen gegenüber stehen die positiven Erklärungen des Philosophen aus dem Prinzip des Übergangs der Materie von der Potenzia- 1 De anima I, 5. 409 b 2. 2 De anima I, 3. 406 a. 15. 3 # II, 3. 736 b 27. Über die Beziehung zwischen Lebens- wärme und Äther vgl. Zeller, a. a. O. II, 2 S. 483 u. Meyer, Aristoteles’ Tierkunde, S. 410 f. 4 Die „erste‟ Entelechie, weil sie nicht bloß in der Wirksamkeit besteht, sondern auch z. B. im Schlafe vorhanden ist. Vgl. über „erste‟ und „zweite‟ Entelechie S. 89 A. 1. 5 De anima II, 1. 9*

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/149>, abgerufen am 24.11.2024.