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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Aristoteles: Verdichtung und Verdünnung.
sondern nur ein Zurückbleiben hinter anderem, oder ein
gewaltsames Getriebenwerden durch dieses nach der Höhe.

B. Gegen die atomistische Erklärung der Verdichtung und der Zunahme.

Die Atomistik behauptet, daß es ohne Leeres keine Ver-
dichtung oder Verdünnung geben könne.1 Nun muß folgendes
zugegeben werden: Wenn es keine Verdichtung gibt, so sind
nur drei Fälle möglich: Erstens, es gibt überhaupt keine Be-
wegung; oder zweitens, es muß beim Übergang der Stoffe in-
einander das Raummaß derselben konstant bleiben, d. h. wenn
Luft in Wasser verwandelt wird, zugleich ebensoviel Wasser
in Luft übergehen; oder drittens, das Weltall muß an seinen
Grenzen in eine überwallende Bewegung geraten infolge des
gegenseitigen Drängens der Körper.

Nun gibt es aber Bewegung, und zwar nicht bloß die
Kreisbewegung, bei der das Ausweichen der Stoffe noch denk-
bar ist, sondern auch geradlinige Bewegung. Ebenso wider-
spricht der zweite Fall der Erfahrung; denn wenn Wasser in
Luft verwandelt wird, so entsteht ein größeres Volumen Luft.
Drittens ist das Überwallen des Weltalls sinnlos, da es kein
Leeres gibt. Alle diese Fälle sind also unmöglich und es muß
daher jedenfalls eine Verdichtung und Verdünnung geben. Es
scheint hier, als ob Aristoteles zur Anerkennung des leeren
Raumes gedrängt werde, oder er muß imstande sein, die Ver-
dichtung ohne Hilfe des Leeren zu erklären. Und dies
ermöglicht er, indem er auf sein Grundprinzip von Materie
und Form zurückgeht. Die Verdichtung und Verdünnung
erklärt sich aus dem Übergange von der Potenzialität in die
Aktualität, wobei der Stoff ein und derselbe bleibt. Nur was
er vorher schon potenziell war, wird er jetzt aktuell, Kleines
aus Großem und Großes aus Kleinem. Wenn das Wasser
Luft wird, so ist nicht derselbe Stoff durch Hinzufügung von
mehr Stoff ein andrer geworden, sondern er ist nur das in
Wirklichkeit (actu) geworden, was er der Möglichkeit nach
schon war. Beim Übergang von Kälte in Wärme kommt ebenso-
wenig wie bei einer Erhöhung der Wärme etwas Neues hinzu, das
nicht bereits potenziell im Stoffe sich vorfand. So wird auch

1 Die folgende Darstellung nach Phys. IV, 9.

Aristoteles: Verdichtung und Verdünnung.
sondern nur ein Zurückbleiben hinter anderem, oder ein
gewaltsames Getriebenwerden durch dieses nach der Höhe.

B. Gegen die atomistische Erklärung der Verdichtung und der Zunahme.

Die Atomistik behauptet, daß es ohne Leeres keine Ver-
dichtung oder Verdünnung geben könne.1 Nun muß folgendes
zugegeben werden: Wenn es keine Verdichtung gibt, so sind
nur drei Fälle möglich: Erstens, es gibt überhaupt keine Be-
wegung; oder zweitens, es muß beim Übergang der Stoffe in-
einander das Raummaß derselben konstant bleiben, d. h. wenn
Luft in Wasser verwandelt wird, zugleich ebensoviel Wasser
in Luft übergehen; oder drittens, das Weltall muß an seinen
Grenzen in eine überwallende Bewegung geraten infolge des
gegenseitigen Drängens der Körper.

Nun gibt es aber Bewegung, und zwar nicht bloß die
Kreisbewegung, bei der das Ausweichen der Stoffe noch denk-
bar ist, sondern auch geradlinige Bewegung. Ebenso wider-
spricht der zweite Fall der Erfahrung; denn wenn Wasser in
Luft verwandelt wird, so entsteht ein größeres Volumen Luft.
Drittens ist das Überwallen des Weltalls sinnlos, da es kein
Leeres gibt. Alle diese Fälle sind also unmöglich und es muß
daher jedenfalls eine Verdichtung und Verdünnung geben. Es
scheint hier, als ob Aristoteles zur Anerkennung des leeren
Raumes gedrängt werde, oder er muß imstande sein, die Ver-
dichtung ohne Hilfe des Leeren zu erklären. Und dies
ermöglicht er, indem er auf sein Grundprinzip von Materie
und Form zurückgeht. Die Verdichtung und Verdünnung
erklärt sich aus dem Übergange von der Potenzialität in die
Aktualität, wobei der Stoff ein und derselbe bleibt. Nur was
er vorher schon potenziell war, wird er jetzt aktuell, Kleines
aus Großem und Großes aus Kleinem. Wenn das Wasser
Luft wird, so ist nicht derselbe Stoff durch Hinzufügung von
mehr Stoff ein andrer geworden, sondern er ist nur das in
Wirklichkeit (actu) geworden, was er der Möglichkeit nach
schon war. Beim Übergang von Kälte in Wärme kommt ebenso-
wenig wie bei einer Erhöhung der Wärme etwas Neues hinzu, das
nicht bereits potenziell im Stoffe sich vorfand. So wird auch

1 Die folgende Darstellung nach Phys. IV, 9.
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[112/0130] Aristoteles: Verdichtung und Verdünnung. sondern nur ein Zurückbleiben hinter anderem, oder ein gewaltsames Getriebenwerden durch dieses nach der Höhe. B. Gegen die atomistische Erklärung der Verdichtung und der Zunahme. Die Atomistik behauptet, daß es ohne Leeres keine Ver- dichtung oder Verdünnung geben könne. 1 Nun muß folgendes zugegeben werden: Wenn es keine Verdichtung gibt, so sind nur drei Fälle möglich: Erstens, es gibt überhaupt keine Be- wegung; oder zweitens, es muß beim Übergang der Stoffe in- einander das Raummaß derselben konstant bleiben, d. h. wenn Luft in Wasser verwandelt wird, zugleich ebensoviel Wasser in Luft übergehen; oder drittens, das Weltall muß an seinen Grenzen in eine überwallende Bewegung geraten infolge des gegenseitigen Drängens der Körper. Nun gibt es aber Bewegung, und zwar nicht bloß die Kreisbewegung, bei der das Ausweichen der Stoffe noch denk- bar ist, sondern auch geradlinige Bewegung. Ebenso wider- spricht der zweite Fall der Erfahrung; denn wenn Wasser in Luft verwandelt wird, so entsteht ein größeres Volumen Luft. Drittens ist das Überwallen des Weltalls sinnlos, da es kein Leeres gibt. Alle diese Fälle sind also unmöglich und es muß daher jedenfalls eine Verdichtung und Verdünnung geben. Es scheint hier, als ob Aristoteles zur Anerkennung des leeren Raumes gedrängt werde, oder er muß imstande sein, die Ver- dichtung ohne Hilfe des Leeren zu erklären. Und dies ermöglicht er, indem er auf sein Grundprinzip von Materie und Form zurückgeht. Die Verdichtung und Verdünnung erklärt sich aus dem Übergange von der Potenzialität in die Aktualität, wobei der Stoff ein und derselbe bleibt. Nur was er vorher schon potenziell war, wird er jetzt aktuell, Kleines aus Großem und Großes aus Kleinem. Wenn das Wasser Luft wird, so ist nicht derselbe Stoff durch Hinzufügung von mehr Stoff ein andrer geworden, sondern er ist nur das in Wirklichkeit (actu) geworden, was er der Möglichkeit nach schon war. Beim Übergang von Kälte in Wärme kommt ebenso- wenig wie bei einer Erhöhung der Wärme etwas Neues hinzu, das nicht bereits potenziell im Stoffe sich vorfand. So wird auch 1 Die folgende Darstellung nach Phys. IV, 9.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/130>, abgerufen am 06.05.2024.