Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Aristoteles: Würdigung seines Natursystems.
schaftlichkeit des aristotelischen Natursystems zu schließen.
Die Natur stellte sich eben als ein Organismus dar, in welchem
tausend Einzelheiten, die wir heut mechanisch erklären, ebenso
unerklärt blieben, wie heutzutage die Thatsachen des Nerven-
lebens. Die psychischen Realitäten, welche als substanzielle
Formen und Einheiten die Natur beherrschten, ließen für tiefer
ins einzelne gehende Erklärungen kein Bedürfnis aufkommen.
Das beschreibende Bild genügte. In dieser Hinsicht -- als
beschreibendes System gemäß dem Denkmittel der Substanzialität
-- erweist sich die Physik des Aristoteles als ein tiefsinniges
und klar durchdachtes Werk dieses bewundernswerten Geistes,
so daß es fast zwei Jahrtausende hindurch unter allem
Wechsel der Völkerschicksale und der Religionen der Ausdruck
der Naturauffassung bleiben konnte.

Diese gewaltige geistige Macht warf sich nun jenen ersten
atomistischen Versuchen entgegen, welche bei dem Bekannt-
werden arabischer Empirie und theoretischer Tradition im
Abendlande sich schüchtern regten, um den Begriff des Körpers
zu formulieren. Was von Platon zu Gunsten der Korpus-
kulartheorie gesagt worden war, wurde durch Aristoteles
erdrückt. Zwar erschloß sich mit seinen physikalischen
Schriften die beste Quelle für die antike Atomistik; aber die
Gegengründe waren unter dem Denkmittel der Substanzialität
nicht zu widerlegen. Jahrhunderte waren nötig, diese Gegen-
gründe abzuschwächen, bis die Arbeit des Altertums der
Korpuskulartheorie wieder zu gute kommen konnte.

Wir haben jetzt die Ausführungen des Aristoteles gegen
die Atomistik im einzelnen festzustellen.

5. Aristoteles als Gegner der Atomistik.

Der Idealismus des Aristoteles hebt den Materialismus
der Atomisten auf. Der Begriff der Substanz wird getrennt
vom Begriff des Körpers. Daß das Körperliche Substanz
sei, hat Aristoteles vor allem zu bekämpfen. Bei seiner
Darstellungsart, welche stets die Ansichten seiner Vorgänger
berücksichtigt und zu widerlegen sucht, mußte sich eine leb-
hafte Polemik gegen die "Physiker", d. h. gegen diejenigen
Naturphilosophen ergeben, welche aus der Natur des Körpers

Aristoteles: Würdigung seines Natursystems.
schaftlichkeit des aristotelischen Natursystems zu schließen.
Die Natur stellte sich eben als ein Organismus dar, in welchem
tausend Einzelheiten, die wir heut mechanisch erklären, ebenso
unerklärt blieben, wie heutzutage die Thatsachen des Nerven-
lebens. Die psychischen Realitäten, welche als substanzielle
Formen und Einheiten die Natur beherrschten, ließen für tiefer
ins einzelne gehende Erklärungen kein Bedürfnis aufkommen.
Das beschreibende Bild genügte. In dieser Hinsicht — als
beschreibendes System gemäß dem Denkmittel der Substanzialität
— erweist sich die Physik des Aristoteles als ein tiefsinniges
und klar durchdachtes Werk dieses bewundernswerten Geistes,
so daß es fast zwei Jahrtausende hindurch unter allem
Wechsel der Völkerschicksale und der Religionen der Ausdruck
der Naturauffassung bleiben konnte.

Diese gewaltige geistige Macht warf sich nun jenen ersten
atomistischen Versuchen entgegen, welche bei dem Bekannt-
werden arabischer Empirie und theoretischer Tradition im
Abendlande sich schüchtern regten, um den Begriff des Körpers
zu formulieren. Was von Platon zu Gunsten der Korpus-
kulartheorie gesagt worden war, wurde durch Aristoteles
erdrückt. Zwar erschloß sich mit seinen physikalischen
Schriften die beste Quelle für die antike Atomistik; aber die
Gegengründe waren unter dem Denkmittel der Substanzialität
nicht zu widerlegen. Jahrhunderte waren nötig, diese Gegen-
gründe abzuschwächen, bis die Arbeit des Altertums der
Korpuskulartheorie wieder zu gute kommen konnte.

Wir haben jetzt die Ausführungen des Aristoteles gegen
die Atomistik im einzelnen festzustellen.

5. Aristoteles als Gegner der Atomistik.

Der Idealismus des Aristoteles hebt den Materialismus
der Atomisten auf. Der Begriff der Substanz wird getrennt
vom Begriff des Körpers. Daß das Körperliche Substanz
sei, hat Aristoteles vor allem zu bekämpfen. Bei seiner
Darstellungsart, welche stets die Ansichten seiner Vorgänger
berücksichtigt und zu widerlegen sucht, mußte sich eine leb-
hafte Polemik gegen die „Physiker‟, d. h. gegen diejenigen
Naturphilosophen ergeben, welche aus der Natur des Körpers

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0120" n="102"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Aristoteles</hi>: Würdigung seines Natursystems.</fw><lb/>
schaftlichkeit des aristotelischen Natursystems zu schließen.<lb/>
Die Natur stellte sich eben als ein Organismus dar, in welchem<lb/>
tausend Einzelheiten, die wir heut mechanisch erklären, ebenso<lb/>
unerklärt blieben, wie heutzutage die Thatsachen des Nerven-<lb/>
lebens. Die psychischen Realitäten, welche als substanzielle<lb/>
Formen und Einheiten die Natur beherrschten, ließen für tiefer<lb/>
ins einzelne gehende Erklärungen kein Bedürfnis aufkommen.<lb/>
Das beschreibende Bild genügte. In dieser Hinsicht &#x2014; als<lb/>
beschreibendes System gemäß dem Denkmittel der Substanzialität<lb/>
&#x2014; erweist sich die Physik des <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> als ein tiefsinniges<lb/>
und klar durchdachtes Werk dieses bewundernswerten Geistes,<lb/>
so daß es fast zwei Jahrtausende hindurch unter allem<lb/>
Wechsel der Völkerschicksale und der Religionen der Ausdruck<lb/>
der Naturauffassung bleiben konnte.</p><lb/>
            <p>Diese gewaltige geistige Macht warf sich nun jenen ersten<lb/>
atomistischen Versuchen entgegen, welche bei dem Bekannt-<lb/>
werden arabischer Empirie und theoretischer Tradition im<lb/>
Abendlande sich schüchtern regten, um den Begriff des Körpers<lb/>
zu formulieren. Was von <hi rendition="#k">Platon</hi> zu Gunsten der Korpus-<lb/>
kulartheorie gesagt worden war, wurde durch <hi rendition="#k">Aristoteles</hi><lb/>
erdrückt. Zwar erschloß sich mit seinen physikalischen<lb/>
Schriften die beste Quelle für die antike Atomistik; aber die<lb/>
Gegengründe waren unter dem Denkmittel der Substanzialität<lb/>
nicht zu widerlegen. Jahrhunderte waren nötig, diese Gegen-<lb/>
gründe abzuschwächen, bis die Arbeit des Altertums der<lb/>
Korpuskulartheorie wieder zu gute kommen konnte.</p><lb/>
            <p>Wir haben jetzt die Ausführungen des <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> gegen<lb/>
die Atomistik im einzelnen festzustellen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">5. Aristoteles als Gegner der Atomistik.</hi> </head><lb/>
            <p>Der Idealismus des <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> hebt den Materialismus<lb/>
der Atomisten auf. Der Begriff der Substanz wird getrennt<lb/>
vom Begriff des Körpers. Daß das <hi rendition="#g">Körperliche Substanz</hi><lb/>
sei, hat <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> vor allem zu bekämpfen. Bei seiner<lb/>
Darstellungsart, welche stets die Ansichten seiner Vorgänger<lb/>
berücksichtigt und zu widerlegen sucht, mußte sich eine leb-<lb/>
hafte Polemik gegen die &#x201E;Physiker&#x201F;, d. h. gegen diejenigen<lb/>
Naturphilosophen ergeben, welche aus der Natur des Körpers<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0120] Aristoteles: Würdigung seines Natursystems. schaftlichkeit des aristotelischen Natursystems zu schließen. Die Natur stellte sich eben als ein Organismus dar, in welchem tausend Einzelheiten, die wir heut mechanisch erklären, ebenso unerklärt blieben, wie heutzutage die Thatsachen des Nerven- lebens. Die psychischen Realitäten, welche als substanzielle Formen und Einheiten die Natur beherrschten, ließen für tiefer ins einzelne gehende Erklärungen kein Bedürfnis aufkommen. Das beschreibende Bild genügte. In dieser Hinsicht — als beschreibendes System gemäß dem Denkmittel der Substanzialität — erweist sich die Physik des Aristoteles als ein tiefsinniges und klar durchdachtes Werk dieses bewundernswerten Geistes, so daß es fast zwei Jahrtausende hindurch unter allem Wechsel der Völkerschicksale und der Religionen der Ausdruck der Naturauffassung bleiben konnte. Diese gewaltige geistige Macht warf sich nun jenen ersten atomistischen Versuchen entgegen, welche bei dem Bekannt- werden arabischer Empirie und theoretischer Tradition im Abendlande sich schüchtern regten, um den Begriff des Körpers zu formulieren. Was von Platon zu Gunsten der Korpus- kulartheorie gesagt worden war, wurde durch Aristoteles erdrückt. Zwar erschloß sich mit seinen physikalischen Schriften die beste Quelle für die antike Atomistik; aber die Gegengründe waren unter dem Denkmittel der Substanzialität nicht zu widerlegen. Jahrhunderte waren nötig, diese Gegen- gründe abzuschwächen, bis die Arbeit des Altertums der Korpuskulartheorie wieder zu gute kommen konnte. Wir haben jetzt die Ausführungen des Aristoteles gegen die Atomistik im einzelnen festzustellen. 5. Aristoteles als Gegner der Atomistik. Der Idealismus des Aristoteles hebt den Materialismus der Atomisten auf. Der Begriff der Substanz wird getrennt vom Begriff des Körpers. Daß das Körperliche Substanz sei, hat Aristoteles vor allem zu bekämpfen. Bei seiner Darstellungsart, welche stets die Ansichten seiner Vorgänger berücksichtigt und zu widerlegen sucht, mußte sich eine leb- hafte Polemik gegen die „Physiker‟, d. h. gegen diejenigen Naturphilosophen ergeben, welche aus der Natur des Körpers

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/120
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/120>, abgerufen am 06.05.2024.