Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Aristoteles: Bewegung der Stoffe.
andern Bewegungen zurückführen, nämlich die geradlinige.
Aristoteles unterscheidet deren zwei, die geradlinige und die
kreislinige, die er zwar zusammenzusetzen weiß; aber er kann
nicht die krummlinige Bewegung auf die geradlinige zurück-
führen. Während wir uns die Bewegung eines bestimmten
Körpers als übertragbar denken, so daß jeder Körper jede
Bewegung erhalten kann, sich selbst aber indifferent gegen
die Bewegung verhält, kommen nach Aristoteles den einfachen
Körpern ihnen natürliche, unabtrennbare Bewegungen zu. Der
Feuerstoff bewegt sich immer nach oben, der Erdstoff immer
nach dem Mittelpunkt der Erde. Die Stoffe haben einen
natürlichen Ort, den sie zu erreichen streben, gravitieren aber
nicht mehr, sobald sie sich an dem ihnen eigentümlich zuge-
hörenden Orte (proprio loco) befinden. Die Orte wirken also
wie Kräfte, aber immer nur in Betreff der einzelnen, bezüg-
lichen Elemente. Statt der Trägheit der Elementarteilchen,
also statt der Eigenschaft, in derjenigen Richtung geradlinig fort-
zugehen, in welcher ihr letzter Bewegungsantrieb lag, sprach
ihnen Aristoteles die Eigenschaft zu, immer in einer bestimm-
ten, ihnen eigentümlichen Richtung fortzuschreiten; ein Prinzip,
das darum nicht unberechtigt ist, weil es jedem Element auch
in Bezug auf die Bewegung unveränderliche Eigenschaften
gibt. Immer aber ist die räumliche Bewegung nur phorono-
misch, nicht dynamisch, d. h. sie enthält nur Ortsveränderung,
nicht Energie als eine Empfindungsthatsache, welche kausale
Wirkungen vermittelt. Das Denkmittel der Veränderlichkeit
fehlte Aristoteles ebenso wie dem Altertum überhaupt. Infolge-
dessen ist die Bewegung bei ihm keine selbständige Realität,
welche ihre Gesetzlichkeit in sich trägt, sondern nur ein Mittel,
durch welches der Naturzweck sich verwirklicht. Das Be-
stimmende ist die geistig gedachte substanziale Form.

Der Begriff des Körpers in chemischer Hinsicht ist bei
Aristoteles ebenfalls das genaue Gegenteil des korpuskularen
Begriffs, dessen die Chemie bei ihrer empirischen Erweiterung
zur theoretischen Grundlegung bedurfte. Allerdings sind die
aristotelischen Elemente Körper (#), nicht bloße
Eigenschaften. Das erste Prinzip nämlich, die erste Materie,
ist der potenzielle Körper, ehe er durch die Form aktuell wird;
das zweite sind die Grundeigenschaften, die Gegensatzpaare

Laßwitz. 7

Aristoteles: Bewegung der Stoffe.
andern Bewegungen zurückführen, nämlich die geradlinige.
Aristoteles unterscheidet deren zwei, die geradlinige und die
kreislinige, die er zwar zusammenzusetzen weiß; aber er kann
nicht die krummlinige Bewegung auf die geradlinige zurück-
führen. Während wir uns die Bewegung eines bestimmten
Körpers als übertragbar denken, so daß jeder Körper jede
Bewegung erhalten kann, sich selbst aber indifferent gegen
die Bewegung verhält, kommen nach Aristoteles den einfachen
Körpern ihnen natürliche, unabtrennbare Bewegungen zu. Der
Feuerstoff bewegt sich immer nach oben, der Erdstoff immer
nach dem Mittelpunkt der Erde. Die Stoffe haben einen
natürlichen Ort, den sie zu erreichen streben, gravitieren aber
nicht mehr, sobald sie sich an dem ihnen eigentümlich zuge-
hörenden Orte (proprio loco) befinden. Die Orte wirken also
wie Kräfte, aber immer nur in Betreff der einzelnen, bezüg-
lichen Elemente. Statt der Trägheit der Elementarteilchen,
also statt der Eigenschaft, in derjenigen Richtung geradlinig fort-
zugehen, in welcher ihr letzter Bewegungsantrieb lag, sprach
ihnen Aristoteles die Eigenschaft zu, immer in einer bestimm-
ten, ihnen eigentümlichen Richtung fortzuschreiten; ein Prinzip,
das darum nicht unberechtigt ist, weil es jedem Element auch
in Bezug auf die Bewegung unveränderliche Eigenschaften
gibt. Immer aber ist die räumliche Bewegung nur phorono-
misch, nicht dynamisch, d. h. sie enthält nur Ortsveränderung,
nicht Energie als eine Empfindungsthatsache, welche kausale
Wirkungen vermittelt. Das Denkmittel der Veränderlichkeit
fehlte Aristoteles ebenso wie dem Altertum überhaupt. Infolge-
dessen ist die Bewegung bei ihm keine selbständige Realität,
welche ihre Gesetzlichkeit in sich trägt, sondern nur ein Mittel,
durch welches der Naturzweck sich verwirklicht. Das Be-
stimmende ist die geistig gedachte substanziale Form.

Der Begriff des Körpers in chemischer Hinsicht ist bei
Aristoteles ebenfalls das genaue Gegenteil des korpuskularen
Begriffs, dessen die Chemie bei ihrer empirischen Erweiterung
zur theoretischen Grundlegung bedurfte. Allerdings sind die
aristotelischen Elemente Körper (#), nicht bloße
Eigenschaften. Das erste Prinzip nämlich, die erste Materie,
ist der potenzielle Körper, ehe er durch die Form aktuell wird;
das zweite sind die Grundeigenschaften, die Gegensatzpaare

Laßwitz. 7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0115" n="97"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Aristoteles</hi>: Bewegung der Stoffe.</fw><lb/>
andern Bewegungen zurückführen, nämlich die geradlinige.<lb/><hi rendition="#k">Aristoteles</hi> unterscheidet deren zwei, die geradlinige und die<lb/>
kreislinige, die er zwar zusammenzusetzen weiß; aber er kann<lb/>
nicht die krummlinige Bewegung auf die geradlinige zurück-<lb/>
führen. Während wir uns die Bewegung eines bestimmten<lb/>
Körpers als übertragbar denken, so daß jeder Körper jede<lb/>
Bewegung erhalten kann, sich selbst aber indifferent gegen<lb/>
die Bewegung verhält, kommen nach <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> den einfachen<lb/>
Körpern ihnen natürliche, unabtrennbare Bewegungen zu. Der<lb/>
Feuerstoff bewegt sich immer nach oben, der Erdstoff immer<lb/>
nach dem Mittelpunkt der Erde. Die Stoffe haben einen<lb/>
natürlichen Ort, den sie zu erreichen streben, gravitieren aber<lb/>
nicht mehr, sobald sie sich an dem ihnen eigentümlich zuge-<lb/>
hörenden Orte (proprio loco) befinden. Die Orte wirken also<lb/>
wie Kräfte, aber immer nur in Betreff der einzelnen, bezüg-<lb/>
lichen Elemente. Statt der Trägheit der Elementarteilchen,<lb/>
also statt der Eigenschaft, in derjenigen Richtung geradlinig fort-<lb/>
zugehen, in welcher ihr letzter Bewegungsantrieb lag, sprach<lb/>
ihnen <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> die Eigenschaft zu, immer in einer bestimm-<lb/>
ten, ihnen eigentümlichen Richtung fortzuschreiten; ein Prinzip,<lb/>
das darum nicht unberechtigt ist, weil es jedem Element auch<lb/>
in Bezug auf die Bewegung unveränderliche Eigenschaften<lb/>
gibt. Immer aber ist die räumliche Bewegung nur phorono-<lb/>
misch, nicht dynamisch, d. h. sie enthält nur Ortsveränderung,<lb/>
nicht Energie als eine Empfindungsthatsache, welche kausale<lb/>
Wirkungen vermittelt. Das Denkmittel der Veränderlichkeit<lb/>
fehlte <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> ebenso wie dem Altertum überhaupt. Infolge-<lb/>
dessen ist die Bewegung bei ihm keine selbständige Realität,<lb/>
welche ihre Gesetzlichkeit in sich trägt, sondern nur ein Mittel,<lb/>
durch welches der <hi rendition="#g">Naturzweck</hi> sich verwirklicht. Das Be-<lb/>
stimmende ist die geistig gedachte substanziale Form.</p><lb/>
            <p>Der Begriff des Körpers in chemischer Hinsicht ist bei<lb/><hi rendition="#k">Aristoteles</hi> ebenfalls das genaue Gegenteil des korpuskularen<lb/>
Begriffs, dessen die Chemie bei ihrer empirischen Erweiterung<lb/>
zur theoretischen Grundlegung bedurfte. Allerdings sind die<lb/>
aristotelischen Elemente Körper <hi rendition="#i">(</hi>#<hi rendition="#i">)</hi>, nicht bloße<lb/>
Eigenschaften. Das erste Prinzip nämlich, die erste Materie,<lb/>
ist der potenzielle Körper, ehe er durch die Form aktuell wird;<lb/>
das zweite sind die Grundeigenschaften, die Gegensatzpaare<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Laßwitz. 7</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0115] Aristoteles: Bewegung der Stoffe. andern Bewegungen zurückführen, nämlich die geradlinige. Aristoteles unterscheidet deren zwei, die geradlinige und die kreislinige, die er zwar zusammenzusetzen weiß; aber er kann nicht die krummlinige Bewegung auf die geradlinige zurück- führen. Während wir uns die Bewegung eines bestimmten Körpers als übertragbar denken, so daß jeder Körper jede Bewegung erhalten kann, sich selbst aber indifferent gegen die Bewegung verhält, kommen nach Aristoteles den einfachen Körpern ihnen natürliche, unabtrennbare Bewegungen zu. Der Feuerstoff bewegt sich immer nach oben, der Erdstoff immer nach dem Mittelpunkt der Erde. Die Stoffe haben einen natürlichen Ort, den sie zu erreichen streben, gravitieren aber nicht mehr, sobald sie sich an dem ihnen eigentümlich zuge- hörenden Orte (proprio loco) befinden. Die Orte wirken also wie Kräfte, aber immer nur in Betreff der einzelnen, bezüg- lichen Elemente. Statt der Trägheit der Elementarteilchen, also statt der Eigenschaft, in derjenigen Richtung geradlinig fort- zugehen, in welcher ihr letzter Bewegungsantrieb lag, sprach ihnen Aristoteles die Eigenschaft zu, immer in einer bestimm- ten, ihnen eigentümlichen Richtung fortzuschreiten; ein Prinzip, das darum nicht unberechtigt ist, weil es jedem Element auch in Bezug auf die Bewegung unveränderliche Eigenschaften gibt. Immer aber ist die räumliche Bewegung nur phorono- misch, nicht dynamisch, d. h. sie enthält nur Ortsveränderung, nicht Energie als eine Empfindungsthatsache, welche kausale Wirkungen vermittelt. Das Denkmittel der Veränderlichkeit fehlte Aristoteles ebenso wie dem Altertum überhaupt. Infolge- dessen ist die Bewegung bei ihm keine selbständige Realität, welche ihre Gesetzlichkeit in sich trägt, sondern nur ein Mittel, durch welches der Naturzweck sich verwirklicht. Das Be- stimmende ist die geistig gedachte substanziale Form. Der Begriff des Körpers in chemischer Hinsicht ist bei Aristoteles ebenfalls das genaue Gegenteil des korpuskularen Begriffs, dessen die Chemie bei ihrer empirischen Erweiterung zur theoretischen Grundlegung bedurfte. Allerdings sind die aristotelischen Elemente Körper (#), nicht bloße Eigenschaften. Das erste Prinzip nämlich, die erste Materie, ist der potenzielle Körper, ehe er durch die Form aktuell wird; das zweite sind die Grundeigenschaften, die Gegensatzpaare Laßwitz. 7

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/115
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/115>, abgerufen am 24.11.2024.