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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Philosophie und Einzelwissenschaften.
dem Standpunkte dessen, was jetzt objektive Natur ist, erscheint
der aristotelische Naturbegriff als eine Dichtung; er war es
nicht für eine beschränktere Erfahrung.

Die Erzeugung der Natur durch das | Denken, d. h. die
Schaffung neuer Denkmittel zur Objektivierung der Empfindung,
ist nicht die Funktion der Philosophie, sondern der Einzel-
wissenschaften. In ihnen entwickeln sich die Begriffe an den
Problemen, welche im Gesamterlebnis der Menschheit auf-
tauchen. Die Philosophie vermag als objektivierende Denkmittel
nur so viele zu erkennen und aufzudecken, als bereits durch
die Entwickelung der Einzelwissenschaften zur Verwendung
gekommen sind. Daher gibt es keine Konstruktion des Natur-
wissens a priori, obwohl Natur nichts andres ist als das Pro-
dukt der sich differenzierenden Gesetzlichkeit des Verstandes
in ihrer Anwendung auf den Inhalt der Empfindung. Die
Philosophie, und zwar die Erkenntniskritik, hat nicht die
Denkmittel zu erfinden, sondern sie entdeckt sie an den
Methoden der Naturwissenschaft.

Um aber diese Methoden und den Entwickelungsprozeß
der Naturwissenschaft zu ermitteln, muß man an Aristoteles
anknüpfen. Denn unser modernes Naturerkennen ist aus dem
seinigen hervorgegangen, wenn auch unter völliger Aufhebung
desselben. Noch hat die Sprache eine Reihe von Wendungen
erhalten, deren begriffliche Bedeutung sich vollständig verkehrt
hat. Elemente, Materie, Bewegung, Schwere sind auch aristote-
lische Erkenntnismittel der Physik; aber der moderne Physiker,
der mit den ihm geläufigen Vorstellungen ohne geeignete Vor-
kenntnisse an das Studium der aristotelischen Physik gehen
wollte, würde sich im Anfang in die bedenklichsten Mißver-
ständnisse verwickeln.

Die historische Darstellung der Entwickelung des Körper-
begriffs hat die Aufgabe, die Umwandlung des aristotelischen
Begriffssystems in das der mathematischen Naturwissenschaft
nachzuweisen. Zu der Zeit, in welcher die Denkmittel der
modernen Physik geschaffen wurden, stand die Naturanschauung
unter dem Einflusse der aristotelischen Metaphysik. Die
Männer, deren Geistesarbeit die aristotelische Lehre untergrub
und umwarf, waren darum nicht weniger im Gedankenkreise
des Stagiriten gebunden, ihr ganzes Leben war ein Ringen mit

Philosophie und Einzelwissenschaften.
dem Standpunkte dessen, was jetzt objektive Natur ist, erscheint
der aristotelische Naturbegriff als eine Dichtung; er war es
nicht für eine beschränktere Erfahrung.

Die Erzeugung der Natur durch das | Denken, d. h. die
Schaffung neuer Denkmittel zur Objektivierung der Empfindung,
ist nicht die Funktion der Philosophie, sondern der Einzel-
wissenschaften. In ihnen entwickeln sich die Begriffe an den
Problemen, welche im Gesamterlebnis der Menschheit auf-
tauchen. Die Philosophie vermag als objektivierende Denkmittel
nur so viele zu erkennen und aufzudecken, als bereits durch
die Entwickelung der Einzelwissenschaften zur Verwendung
gekommen sind. Daher gibt es keine Konstruktion des Natur-
wissens a priori, obwohl Natur nichts andres ist als das Pro-
dukt der sich differenzierenden Gesetzlichkeit des Verstandes
in ihrer Anwendung auf den Inhalt der Empfindung. Die
Philosophie, und zwar die Erkenntniskritik, hat nicht die
Denkmittel zu erfinden, sondern sie entdeckt sie an den
Methoden der Naturwissenschaft.

Um aber diese Methoden und den Entwickelungsprozeß
der Naturwissenschaft zu ermitteln, muß man an Aristoteles
anknüpfen. Denn unser modernes Naturerkennen ist aus dem
seinigen hervorgegangen, wenn auch unter völliger Aufhebung
desselben. Noch hat die Sprache eine Reihe von Wendungen
erhalten, deren begriffliche Bedeutung sich vollständig verkehrt
hat. Elemente, Materie, Bewegung, Schwere sind auch aristote-
lische Erkenntnismittel der Physik; aber der moderne Physiker,
der mit den ihm geläufigen Vorstellungen ohne geeignete Vor-
kenntnisse an das Studium der aristotelischen Physik gehen
wollte, würde sich im Anfang in die bedenklichsten Mißver-
ständnisse verwickeln.

Die historische Darstellung der Entwickelung des Körper-
begriffs hat die Aufgabe, die Umwandlung des aristotelischen
Begriffssystems in das der mathematischen Naturwissenschaft
nachzuweisen. Zu der Zeit, in welcher die Denkmittel der
modernen Physik geschaffen wurden, stand die Naturanschauung
unter dem Einflusse der aristotelischen Metaphysik. Die
Männer, deren Geistesarbeit die aristotelische Lehre untergrub
und umwarf, waren darum nicht weniger im Gedankenkreise
des Stagiriten gebunden, ihr ganzes Leben war ein Ringen mit

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[84/0102] Philosophie und Einzelwissenschaften. dem Standpunkte dessen, was jetzt objektive Natur ist, erscheint der aristotelische Naturbegriff als eine Dichtung; er war es nicht für eine beschränktere Erfahrung. Die Erzeugung der Natur durch das | Denken, d. h. die Schaffung neuer Denkmittel zur Objektivierung der Empfindung, ist nicht die Funktion der Philosophie, sondern der Einzel- wissenschaften. In ihnen entwickeln sich die Begriffe an den Problemen, welche im Gesamterlebnis der Menschheit auf- tauchen. Die Philosophie vermag als objektivierende Denkmittel nur so viele zu erkennen und aufzudecken, als bereits durch die Entwickelung der Einzelwissenschaften zur Verwendung gekommen sind. Daher gibt es keine Konstruktion des Natur- wissens a priori, obwohl Natur nichts andres ist als das Pro- dukt der sich differenzierenden Gesetzlichkeit des Verstandes in ihrer Anwendung auf den Inhalt der Empfindung. Die Philosophie, und zwar die Erkenntniskritik, hat nicht die Denkmittel zu erfinden, sondern sie entdeckt sie an den Methoden der Naturwissenschaft. Um aber diese Methoden und den Entwickelungsprozeß der Naturwissenschaft zu ermitteln, muß man an Aristoteles anknüpfen. Denn unser modernes Naturerkennen ist aus dem seinigen hervorgegangen, wenn auch unter völliger Aufhebung desselben. Noch hat die Sprache eine Reihe von Wendungen erhalten, deren begriffliche Bedeutung sich vollständig verkehrt hat. Elemente, Materie, Bewegung, Schwere sind auch aristote- lische Erkenntnismittel der Physik; aber der moderne Physiker, der mit den ihm geläufigen Vorstellungen ohne geeignete Vor- kenntnisse an das Studium der aristotelischen Physik gehen wollte, würde sich im Anfang in die bedenklichsten Mißver- ständnisse verwickeln. Die historische Darstellung der Entwickelung des Körper- begriffs hat die Aufgabe, die Umwandlung des aristotelischen Begriffssystems in das der mathematischen Naturwissenschaft nachzuweisen. Zu der Zeit, in welcher die Denkmittel der modernen Physik geschaffen wurden, stand die Naturanschauung unter dem Einflusse der aristotelischen Metaphysik. Die Männer, deren Geistesarbeit die aristotelische Lehre untergrub und umwarf, waren darum nicht weniger im Gedankenkreise des Stagiriten gebunden, ihr ganzes Leben war ein Ringen mit

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/102>, abgerufen am 22.11.2024.