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Lassalle, Ferdinand: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen. Zürich, 1863.

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Furcht, fahre ich fort, sei nur ein Vorurtheil und es ließe sich
im Gegentheil nachweisen, daß dieser Gedanke den höchsten
Fortschritt und Triumph der Sittlichkeit darstellen würde, den
die Weltgeschichte bis heute kenne. Jene Furcht sei nur ein
Vorurtheil und zwar das Vorurtheil der heutigen noch vom
Privilegium beherrschten Zeit. Schon habe es eine Zeit ge-
geben, in welcher sogar das entgegengesetzte Vorurtheil
gegolten habe, die Zeit der französischen Republik von 1793.

Sie sehen also, daß ich überhaupt schon nur deshalb auf jenes
Thema komme, um meine Ansicht von der Bestimmung, welcher
unsere weltgeschichtliche Periode zueilt, gegen den für Viele sehr
naheliegenden, obwohl nur sehr scheinbaren Vorwurf der Bar-
barei und Rohheit zu rechtfertigen.

Schon dieser Zusammenhang, schon diese Absicht nimmt
dem, was ich nun über den Zustand der Sittlichkeit in den
verschiedenen Klassen der Gesellschaft sage, jeden aggressiven
Charakter, jeden animus der Provocation und Aufreizung. Es
ist eben nur gesagt, um die wissenschaftliche Entwickelung
der Bedeutung unserer Geschichtsperiode durchzuführen und
gegen irrige Einwürfe zu befestigen. Das aber muß doch min-
destens die Bedeutung des Art. 20 der Verfassung: "die Wissen-
schaft und ihre Lehre ist frei" sein, daß es der Wissenschaft
zustehe, Alles zu sagen, was zur Ausführung und Durchführung
ihrer Thesen erforderlich ist, daß es nichts objectiv Verbotenes,
nichts culpabel Strafbares für sie gebe, nichts gebe, was sie nicht
zu ihrem wissenschaftlichen Endzweck darthun und nachweisen dürfe.

Jnzwischen, hierauf wollte ich nur beiläufig aufmerksam
machen. Der Nachweis, den ich Jhnen hier zu führen ver-
sprochen habe, ist ein anderer.

Jn welchem Sinne behandle ich nun jenes Thema von der,
wie Fichte sagt, mit dem steigenden Stande steigenden Unsitt-
lichkeit, und in welchem Sinne beleuchte ich das entgegengesetzte
Vorurtheil des Sanscülottismus?

Jch sage wörtlich: "Damals steigerte sich das entgegen-
gesetzte Dogma sogar so weit, daß fast Jeder, der einen ganzen
Rock hatte, eben dadurch verderbt und verdächtig erschien, und
Tugend, Reinheit und patriotische Sittlichkeit nur solchen inne
zu wohnen schien, die keinen guten Rock besaßen. Es war die
Periode des Sanscülottismus. Diese Anschauung, meine
Herren, hat in der That zu ihrer Grundlage eine Wahrheit, die

Furcht, fahre ich fort, ſei nur ein Vorurtheil und es ließe ſich
im Gegentheil nachweiſen, daß dieſer Gedanke den höchſten
Fortſchritt und Triumph der Sittlichkeit darſtellen würde, den
die Weltgeſchichte bis heute kenne. Jene Furcht ſei nur ein
Vorurtheil und zwar das Vorurtheil der heutigen noch vom
Privilegium beherrſchten Zeit. Schon habe es eine Zeit ge-
geben, in welcher ſogar das entgegengeſetzte Vorurtheil
gegolten habe, die Zeit der franzöſiſchen Republik von 1793.

Sie ſehen alſo, daß ich überhaupt ſchon nur deshalb auf jenes
Thema komme, um meine Anſicht von der Beſtimmung, welcher
unſere weltgeſchichtliche Periode zueilt, gegen den für Viele ſehr
naheliegenden, obwohl nur ſehr ſcheinbaren Vorwurf der Bar-
barei und Rohheit zu rechtfertigen.

Schon dieſer Zuſammenhang, ſchon dieſe Abſicht nimmt
dem, was ich nun über den Zuſtand der Sittlichkeit in den
verſchiedenen Klaſſen der Geſellſchaft ſage, jeden aggreſſiven
Charakter, jeden animus der Provocation und Aufreizung. Es
iſt eben nur geſagt, um die wiſſenſchaftliche Entwickelung
der Bedeutung unſerer Geſchichtsperiode durchzuführen und
gegen irrige Einwürfe zu befeſtigen. Das aber muß doch min-
deſtens die Bedeutung des Art. 20 der Verfaſſung: „die Wiſſen-
ſchaft und ihre Lehre iſt frei“ ſein, daß es der Wiſſenſchaft
zuſtehe, Alles zu ſagen, was zur Ausführung und Durchführung
ihrer Theſen erforderlich iſt, daß es nichts objectiv Verbotenes,
nichts culpabel Strafbares für ſie gebe, nichts gebe, was ſie nicht
zu ihrem wiſſenſchaftlichen Endzweck darthun und nachweiſen dürfe.

Jnzwiſchen, hierauf wollte ich nur beiläufig aufmerkſam
machen. Der Nachweis, den ich Jhnen hier zu führen ver-
ſprochen habe, iſt ein anderer.

Jn welchem Sinne behandle ich nun jenes Thema von der,
wie Fichte ſagt, mit dem ſteigenden Stande ſteigenden Unſitt-
lichkeit, und in welchem Sinne beleuchte ich das entgegengeſetzte
Vorurtheil des Sanscülottismus?

Jch ſage wörtlich: „Damals ſteigerte ſich das entgegen-
geſetzte Dogma ſogar ſo weit, daß faſt Jeder, der einen ganzen
Rock hatte, eben dadurch verderbt und verdächtig erſchien, und
Tugend, Reinheit und patriotiſche Sittlichkeit nur ſolchen inne
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[132/0138] Furcht, fahre ich fort, ſei nur ein Vorurtheil und es ließe ſich im Gegentheil nachweiſen, daß dieſer Gedanke den höchſten Fortſchritt und Triumph der Sittlichkeit darſtellen würde, den die Weltgeſchichte bis heute kenne. Jene Furcht ſei nur ein Vorurtheil und zwar das Vorurtheil der heutigen noch vom Privilegium beherrſchten Zeit. Schon habe es eine Zeit ge- geben, in welcher ſogar das entgegengeſetzte Vorurtheil gegolten habe, die Zeit der franzöſiſchen Republik von 1793. Sie ſehen alſo, daß ich überhaupt ſchon nur deshalb auf jenes Thema komme, um meine Anſicht von der Beſtimmung, welcher unſere weltgeſchichtliche Periode zueilt, gegen den für Viele ſehr naheliegenden, obwohl nur ſehr ſcheinbaren Vorwurf der Bar- barei und Rohheit zu rechtfertigen. Schon dieſer Zuſammenhang, ſchon dieſe Abſicht nimmt dem, was ich nun über den Zuſtand der Sittlichkeit in den verſchiedenen Klaſſen der Geſellſchaft ſage, jeden aggreſſiven Charakter, jeden animus der Provocation und Aufreizung. Es iſt eben nur geſagt, um die wiſſenſchaftliche Entwickelung der Bedeutung unſerer Geſchichtsperiode durchzuführen und gegen irrige Einwürfe zu befeſtigen. Das aber muß doch min- deſtens die Bedeutung des Art. 20 der Verfaſſung: „die Wiſſen- ſchaft und ihre Lehre iſt frei“ ſein, daß es der Wiſſenſchaft zuſtehe, Alles zu ſagen, was zur Ausführung und Durchführung ihrer Theſen erforderlich iſt, daß es nichts objectiv Verbotenes, nichts culpabel Strafbares für ſie gebe, nichts gebe, was ſie nicht zu ihrem wiſſenſchaftlichen Endzweck darthun und nachweiſen dürfe. Jnzwiſchen, hierauf wollte ich nur beiläufig aufmerkſam machen. Der Nachweis, den ich Jhnen hier zu führen ver- ſprochen habe, iſt ein anderer. Jn welchem Sinne behandle ich nun jenes Thema von der, wie Fichte ſagt, mit dem ſteigenden Stande ſteigenden Unſitt- lichkeit, und in welchem Sinne beleuchte ich das entgegengeſetzte Vorurtheil des Sanscülottismus? Jch ſage wörtlich: „Damals ſteigerte ſich das entgegen- geſetzte Dogma ſogar ſo weit, daß faſt Jeder, der einen ganzen Rock hatte, eben dadurch verderbt und verdächtig erſchien, und Tugend, Reinheit und patriotiſche Sittlichkeit nur ſolchen inne zu wohnen ſchien, die keinen guten Rock beſaßen. Es war die Periode des Sanscülottismus. Dieſe Anſchauung, meine Herren, hat in der That zu ihrer Grundlage eine Wahrheit, die

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Zitationshilfe: Lassalle, Ferdinand: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen. Zürich, 1863, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lassalle_steuer_1863/138>, abgerufen am 23.11.2024.