Aufenthalts führte. Was ich Sie, mein theurer Freund, zu besorgen bitte, ist, daß das edeldenkende Herz des besten Mäd- chens durch keine Scheintugend hinge- rissen werde. Sie faßt das Gute an ih- rem Nebenmenschen mit so vielem Eifer auf, und schlüpft dann über die Mängel mit so vieler Nachsicht hinweg, daß ich nur darüber mit Schmerzen auf sie sehe. Unglücklich wird keine menschliche Seele durch sie gemacht werden; denn ich weiß, daß sie dem Wohl ihres Nächsten tau- sendmal das Jhrige aufopfern würde, ehe sie nur ein minutenlanges Uebel auf andre legte, wenn sie auch das Glück ih- res ganzen eignen Lebens damit erkau- fen könnte. Aber da sie lauter Empfin- dung ist, so haben viele, viele, die elen- de Macht, sie zu kränken. Jch habe bis itzt meine Furcht vor dem Gemüths- charakter der Gräfin Löbau geheim gehal- ten; aber der Gedanke, meine Sophie
bey
Vollkommenheit, welches sich in ihrer Seele ausgebildet hatte, bis auf die kleinsten Züge ähnlich wäre. A. d. H.
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Aufenthalts fuͤhrte. Was ich Sie, mein theurer Freund, zu beſorgen bitte, iſt, daß das edeldenkende Herz des beſten Maͤd- chens durch keine Scheintugend hinge- riſſen werde. Sie faßt das Gute an ih- rem Nebenmenſchen mit ſo vielem Eifer auf, und ſchluͤpft dann uͤber die Maͤngel mit ſo vieler Nachſicht hinweg, daß ich nur daruͤber mit Schmerzen auf ſie ſehe. Ungluͤcklich wird keine menſchliche Seele durch ſie gemacht werden; denn ich weiß, daß ſie dem Wohl ihres Naͤchſten tau- ſendmal das Jhrige aufopfern wuͤrde, ehe ſie nur ein minutenlanges Uebel auf andre legte, wenn ſie auch das Gluͤck ih- res ganzen eignen Lebens damit erkau- fen koͤnnte. Aber da ſie lauter Empfin- dung iſt, ſo haben viele, viele, die elen- de Macht, ſie zu kraͤnken. Jch habe bis itzt meine Furcht vor dem Gemuͤths- charakter der Graͤfin Loͤbau geheim gehal- ten; aber der Gedanke, meine Sophie
bey
Vollkommenheit, welches ſich in ihrer Seele ausgebildet hatte, bis auf die kleinſten Zuͤge aͤhnlich waͤre. A. d. H.
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Aufenthalts fuͤhrte. Was ich Sie, mein
theurer Freund, zu beſorgen bitte, iſt,
daß das edeldenkende Herz des beſten Maͤd-
chens durch keine Scheintugend hinge-
riſſen werde. Sie faßt das Gute an ih-
rem Nebenmenſchen mit ſo vielem Eifer auf,
und ſchluͤpft dann uͤber die Maͤngel mit
ſo vieler Nachſicht hinweg, daß ich nur
daruͤber mit Schmerzen auf ſie ſehe.
Ungluͤcklich wird keine menſchliche Seele
durch ſie gemacht werden; denn ich weiß,
daß ſie dem Wohl ihres Naͤchſten tau-
ſendmal das Jhrige aufopfern wuͤrde, ehe
ſie nur ein minutenlanges Uebel auf
andre legte, wenn ſie auch das Gluͤck ih-
res ganzen eignen Lebens damit erkau-
fen koͤnnte. Aber da ſie lauter Empfin-
dung iſt, ſo haben viele, viele, die elen-
de Macht, ſie zu kraͤnken. Jch habe
bis itzt meine Furcht vor dem Gemuͤths-
charakter der Graͤfin Loͤbau geheim gehal-
ten; aber der Gedanke, meine Sophie
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*) Vollkommenheit, welches ſich in ihrer Seele
ausgebildet hatte, bis auf die kleinſten Zuͤge
aͤhnlich waͤre. A. d. H.
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/97>, abgerufen am 27.11.2024.
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